: Lob dem Parteienstreit
Die Öffentlichkeit mahnt die Politik, den „Koalitionspoker“ zu beenden und stattdessen am Gemeinwohl zu arbeiten. Wer so argumentiert, missachtet das Prinzip der Demokratie
Man hat sehr bald nach den Bundestagswahlen vor allem von Politikern eines wieder und wieder gehört: Man müsse jetzt schnell eine handlungsfähige Regierung zustande bringen, die Bürger hätten ein Recht darauf. Dieser Selbstverpflichtung entsprach auf Seiten der politischen Öffentlichkeit – insbesondere auch bei den großen Mahnern der beiden christlichen Kirchen – die Forderung an die Parteien, sie sollten jetzt (endlich) von ihren „partei-taktischen Spielereien“ und vom „Koalitionspoker“ ablassen und sich wieder in den Dienst der Bevölkerung stellen, indem sie sich den drängenden Sachfragen zuwenden und „die Probleme des Landes lösen“.
Ganz konkret bedeutete dies bekanntlich die Erwartung an die Parteien, zum Zwecke der Regierungsbildung gegebenenfalls auch ungeliebte Koalitionen einzugehen, die eigentlich nicht im unmittelbaren Denkhorizont liegen, und damit die eigene Parteien-Identität zu flexibilisieren.
All dies schienen Trivialitäten zu sein, und wie so viele der gebetsmühlenartigen Wiederholungen in der politischen Rhetorik gingen sie beim Publikum wohl zum einen Ohr rein und zum anderen wieder heraus. Allerdings verdecken Trivialitäten nicht selten eine Reihe dahinterstehender impliziter Überzeugungen und untergründiger Botschaften, die zu denken geben und einer näheren Betrachtung durchaus wert sind.
Hier lautet die zumindest latente Aussage: Politik hat sich in erster Linie um das Wohl des Landes und das Gemeinwohl zu kümmern. Doch die Parteien – als strategische Akteure, die allzu häufig Macht- und Selbstbehauptungskämpfe untereinander austragen – behindern diese Gemeinwohl-Orientierung zuweilen. Deshalb hat die politische Öffentlichkeit die Parteien an diese zentrale Aufgabe ihrer Arbeit gegebenenfalls immer wieder zu erinnern.
Was ist von diesem harmlos erscheinenden – unausgesprochenen – Diskurs über Gemeinwohl und Parteien-Identität zu halten? Zunächst: Niemand wird grundsätzlich etwas gegen die Beförderung des Gemeinwohls haben. Zudem erwarten die BürgerInnen von politischen Akteuren zu Recht Antworten oder gar Lösungen für die anstehenden Probleme und Aufgaben. Und auch die Forderung nach politischer Flexibilität der Parteien, sofern sie den Abbau von „Denkblockaden“ (Heiner Geißler) bedeutet, klingt auf den ersten Blick vernünftig. So scheint es nur konsequent, die vertraute „Politiker nun bewegt euch und macht mal!“-Forderung öffentlich zu propagieren. Das ist allerdings nicht die ganze Wahrheit. Die Crux dieses Diskurses liegt insbesondere in zwei Punk:ten:
Zum Ersten liegt sie in Sachen „Parteien-Identität“ in der Suggestion, die Identität von Politikern und Parteien, die es ihnen etwa verbietet, mit bestimmten anderen Parteien zu koalieren, sei vor allem eine Frage subjektiver Eitelkeiten oder parteilicher Selbstbehauptungsinteressen. Das Bild, das hier vorherrscht, ist das Bild einer politischen Arena, in der die Akteure auf der Basis von individuellen und vor allem Parteiinteressen jeweils bestimmte Machtkonstellation schaffen.
Genau dies aber: dass die Identitäten und die Handlungen von Parteien subjektiv-strategisch verstanden werden, stellt die demokratischen Verhältnisse oder jedenfalls die Idee der Demokratie auf den Kopf. Denn es sind ja nicht Selbstbehauptungsstrategien, sondern Programme und Wählervoten, die die Festgelegtheiten oder gar die „Starrheiten“ von Parteien normativ begründen und die es ihnen unter anderem verbieten, bestimmte Regierungskoalitionen einzugehen.
Hier, in den Verpflichtungen gegenüber dem eigenen Programm und der Wählerschaft, liegen die guten Gründe für „Koalitionspoker“ und Regierungsbildungszu- oder -absagen. Der Appell ans Gemeinwohl darf diese Gründe nicht ohne weiteres übertrumpfen. In diesem Sinne haben Bündnis 90/Grüne sich zu Recht und gerade im Sinne demokratischer Verantwortlichkeit geweigert, zugunsten möglicher persönlicher oder strategischer Vorteile zum Steigbügelhalter einer schwarz-gelben Koalition zu werden.
Das zweite Problem der parteienkritischen Redeweise, die bezeichnenderweise immer wieder von Kirchen-Vertretern ausgeht, liegt in ihrem Begriff von „Gemeinwohl“ und der damit verbundenen allzu paternalistischen Vorstellung vom Staat: Die politische Klasse sollte die Probleme des Landes und seiner Bevölkerung lösen – ganz analog zur christlichen Pastoral, wo die Gemeinde der Gläubigen zum göttlich-objektiv vorgegebenen Heil geführt werden soll. Politik wird hier als objektivierbares Handeln verstanden, dessen Ziel – das Gemeinwohl – mehr oder weniger erreicht oder verfehlt werden könne, je nach „Sachkompetenz“ der handelnden Akteure.
Gerade auch PolitikerInnen unterliegen diesem Diskurs, wenn sie der Öffentlichkeit glauben machen wollen, sie – und nur sie – könnten „das Land voranbringen“, die anderen hätten uns „in die gegenwärtige Misere gebracht“, die Regierung habe „versagt“, „abgewirtschaftet“ oder „das Land gegen die Wand gefahren“. Was diese insinuierenden Redeweisen und ihre drastisch-suggestiven Bilder aber in Bezug etwa auf Familien-, Steuer- oder Gesundheitspolitik überhaupt heißen könnte, bleibt in der Regel völlig unausgewiesen.
In der Tat ist ja unklar, was unter einer „richtigen“ oder optimalen Steuerreform zu verstehen wäre, wo es doch eine durchaus offene Frage ist, ob letztere primär nach Gerechtigkeitskriterien, mit Blick auf die Staatskasse oder eher unter dem Gesichtspunkt der Steuervereinfachung zu gestalten wäre. Und selbst bei einer so allgemein anerkannten Zielsetzung, wie dem Abbau der Arbeitslosigkeit, ist es ja eine Frage subjektiv-parteilicher, von vielfältigen Erwägungen abhängige Entscheidung, ob der Arbeitslosigkeit sinnvollerweise auch durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen begegnet werden sollte.
Wenn also suggeriert wird, es gäbe den einen, richtigen Weg zu dem einen allgemeinen Wohl, und der Streit drehe sich allein um deren richtige Bestimmung, dann wird dabei – vor allem auf Seiten der Rechten – gerne vergessen gemacht, dass es in der Regel vor allem spezifische Interessen sind, die die politischen Konzepte voneinander unterscheiden und die Parteienkonkurrenz beleben. Es geht nicht um die höhere oder geringere Kompetenz bei der Lösung angeblich objektiver politischer Probleme. Parteien werden deshalb zu Recht wegen ihrer spezifischen Antworten auf ganz bestimmte Fragen gewählt – eine Tatsache, die auch von den Parteienkompetenz-Umfragen gerne ignoriert wird.
Am Beispiel des parteienkritisch-gemeinwohlorientierten Diskurses, der vor allem in krisenhafteren Zeiten auflodert, zeigt sich, dass Einsichten, die in der Demokratietheorie weithin anerkannte Allgemeinplätze darstellen, vom Alltag der politischen Rhetorik immer wieder konterkariert werden.
THOMAS SCHÄFER