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Literaturnobelpreis für Abdulrazak GurnahEin ungewöhnlicher Autor

Das Werk des Literatur-Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah spiegelt die Geschichte einer Weltregion wider – in ihrer gesamten Vielschichtigkeit.

Abdulrazak Gurnah in seinem Garten in Canterbury Foto: Frank Augstein/ap

Abdulrazak Gurnah ist ein ungewöhnlicher Autor – nicht nur für die Tradition des Nobelpreises, sondern auch in seiner Eigenschaft als afrikanischer Autor, der in Großbritannien lebt. Gurnah, der zweimal für den britischen Booker Prize nominiert war, schreibt über Postkolonialismus außerhalb der üblichen Oppositionen. Sein Interesse gilt den Bewegungen der Literatur und der Sprache – ein Werk, in dem es um Menschen geht, die ohne Heimat sind.

„Paradise“ heißt einer seiner besten Romane, er handelt nicht nur von Kolonisierung, sondern auch von Themen wie Sklaverei und Religion. Die zwei zentralen Figuren des Romans sind der Händler Aziz und die Hauptfigur, der junge Yusuf. „Paradise“ zeigt die Komplexität von ­Gurnahs Schreiben besonders deutlich. In Yusuf verbindet der Autor religiöse, literarische und historische Geschichten, die in der Figur zusammenkommen, um sein Elend nachdrücklich zu erklären. In Yusufs Geschichte spiegelt Gurnah die Geschichte des Yusuf aus dem Koran, der auch dem alttestamentarischen Joseph entspricht.

Yusuf wurde an den Händler Aziz verkauft, erfährt dies aber erst, als er älter ist. Zunächst vermutet er in Aziz einen Verwandten – und im Vergleich zu den Verwandten aus anderen Romanen von Gurnah ist Aziz deutlich netter, freundlicher und vor allem weniger übergriffig. Im Verlauf des Romans ändert sich diese Wahrnehmung. Im Gegensatz zur Erzählung aus dem Koran endet Yusufs Geschichte nicht im Kreise seiner Familie – sondern in den Rängen der Askaris, der sogenannten „Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika“. Solche Hinweise auf die europäische Kolonialgeschichte finden sich häufig in Gurnahs Büchern.

Parallel zur koranischen Erzählung hat Gurnah seinen Roman mit weiteren Erzählern gefüllt. Geschichten über Prinzessinnen, Dschinns und natürlich das Paradies werden dargeboten von Figuren, deren Leben weiter nicht entfernt sein könnte von paradiesischen Zuständen. Gleichzeitig spüren die Figuren des Romans auch die Nachwirkungen von geschichtlichen und sozialen Erzählungen. Yusuf merkt schnell, dass er von allen diesen Geschichten ausgeschlossen ist. Als ungebildeter Mensch ist er sozial so außen vor, dass er in Betracht zieht, mit Kindern zur Schule zu gehen, um seine Scham zu überwinden.

Eine Reise nach Nairobi

„People of honor“ nennen sich die gebildeten Menschen an der Küste in diesem Buch, was Yusuf automatisch ehrenlos macht. Aber auf seinen Reisen ins Landesinnere mit Aziz merkt Yusuf auch, dass der Sklavenhandel unter den Menschen Erinnerungen und Erzählungen hinterlassen hat, die ihn und die ganze Karawane einem Grundverdacht aussetzen. „Wilde“ – das sind in Gurnahs Roman immer die anderen.

Zuletzt flieht Yusuf in die Ränge der deutschen Armee und wird Askari. Das koranische Vorbild verwandelt sich bei Gurnah in ein Leben als Fußsoldat in der „Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika“. Am Ende schließt sich eine Tür.

In London werden schon die ersten Bücher von Abdulrazak Gurnah ins Schaufenster gestellt Foto: Alberto Pezzali/ap

Schon in Gurnahs Debütroman „Memory of Departure“, der 1987 erschien, schloss sich am Ende eine Tür, aber es ist eine Tür aus Scham. Hassan, die Hauptfigur des Romans, kommt von der Küste, und zwar aus einem Dorf, in dem Gewalt allgegenwärtig ist. Hassans Vater, so geht das Gerücht, hatte Kinder in die Sklaverei verkauft, und Hassan schaut ihm später dabei zu, wie er seine Mutter vergewaltigt. Hassan selbst wird von Mitschülern belästigt und bedroht. Schließlich unternimmt er – wie Yusuf – eine Reise.

Hinweise auf die europäische Kolonialgeschichte finden sich häufig in Gurnahs Büchern

Hassan fährt nach Nairobi zu seinem reichen Onkel, der ihm erzählt, wie zivilisiert die Menschen an der Küste doch seien. Hassan fühlt sich als Fremder – und von der Küste zu stammen und klug zu sein erwirbt ihm keine Vorteile. In Nairobi ist Hassan der arme Verwandte – „with plenty of brains but no money“ –, und er wird am Ende ausgestoßen, weil er Schwierigkeiten hat, zwischen den Machtverhältnissen, die ihn zwischen Klasse und Geschlechtlichkeit einzwängen, richtig zu navigieren. Beschuldigt, die Tochter seines Gastgebers entehrt zu haben, wird er aus dem Haus seines Onkels geworfen.

Die Echos von Gewalt und Verlorenheit

Wie Yusuf ist Hassan jemand, der zwischen den Erzählungen steht, vor allem den Erzählungen über seinen Vater und die größere Erzählung über Scham und Ehre. Sein Vater, ein Alkoholiker, der wegen Päderastie im Gefängnis war, bestimmt, wie Menschen über Hassan im Dorf ebenso wie im Haus seines reichen Onkels über ihn denken. „Wir haben einen Clown erwartet“, gibt die Tochter des Onkels zu.

Scham und Ehre sind an patriarchale Macht gebunden: Hassans Vater wurde als junger Mann verheiratet, weil seine Mutter annahm, eine junge Frau würde ihn von seinem „interest in anuses“ heilen. Homosexuelle Handlungen als Schammoment kommen am Anfang des Buches immer wieder vor. So verwenden auch Hassans Mitschüler sexuelle Akte als Machtinstrument. Die Reaktion von Hassans Vater ist ein übersteigertes Gefühl für seine eigene Ehre, und misogyne Gewalt.

Hassan versucht, über Bildung und die Beziehung zu der Tochter aus gutem Haus aus diesem Kreislauf zu entkommen – findet sich aber darin gefangen. Am Ende flieht auch Hassan – und arbeitet auf einem Schiff, in dessen streng riechendem Bauch. Die Echos von Gewalt und Verlorenheit finden sich überall im Werk von Abdulrazak Gurnah, mit dem die Akademie einen Autor geehrt hat, der eine einzigartige Perspektive auf die Geschichte Afrikas bietet.

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3 Kommentare

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  • Über diesen paradoxen Abschnitt bin ich gerade gestolpert:

    "Scham und Ehre sind an patriarchale Macht gebunden: Hassans Vater wurde als junger Mann verheiratet, weil seine Mutter annahm, eine junge Frau würde ihn von seinem 'interest in anuses' heilen."

    Diser Satz klingt für mich jetzt eher nach matriarchaler Gewalt. Oder mindestens nach matriarchal vermittelter patriarchaler Gewalt. Im Buch wird es sich vielleicht anders darstellen.

  • Faszinierend, wieviele Themenkomplexe Gurnah verwoben hat. Auf eine weitere Ehrung dieser Perspektive mussten wir seit Mahfuz warten.

  • Eine gute Wahl, auch weil hier endlich einmal ein nicht-weißer und nicht in Europa sozialisierter Autor eine Stimme bekommt. Ich habe seine Bücher mit viel Gewinn gelesen und meinen Blick auf Afrika geändert.