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Literatur aus dem LebenDer Chronist und die Liebe

Morgens um vier setzt sich Erwin Koch an den Computer und beginnt, Geschichten zu schreiben. Über Menschen; also über Liebende.

Erwin Koch schaut der Liebe ins Gepäck. Bild: Julia Baier

Die Annely, die ist ihm nicht gleich gelungen. Drei, vier Stunden schrieb er daran, dann merkte Koch, dass er sie nicht auf dem Balkon stehen lassen kann, so unvermittelt am Anfang der Geschichte, dass sie stattdessen später auf dem Balkon stehen müsste, am Ende eigentlich.

Also hat Erwin Koch sein Word-Dokument geschlossen und ein neues, leeres geöffnet. Dann hat er es aufgeschrieben wie es war, der Reihe nach und mit dem Anfang als Anfang: Annely im Café vor kaltem Kaffee, ängstlich, den zweiten bezahlen zu müssen, den die Kellnerin ihr plötzlich vorsetzt, erleichtert, als sie versteht, dass ihn der Herr am anderen Tisch für sie bestellt hat, der Herr mit Namen Alois, von dem sie damals dachte: Die grünen Augen, die der hat. So viele Haare. Aber sonst: ganz nett.

So hat die Liebe begonnen am 19. November 1950, am Nachmittag, vielleicht drei Uhr.

Herr Koch, warum ist es wichtig zu benennen, um wie viel Uhr eine Liebe beginnt?

„Das ist ein Stück weit Masche.“ Erwin Koch, blaue Jeans, blauer Pulli, blaue Augen, blauer Hemdkragen, 55, Autor für lange literarische Magazintexte, Journalist für deutsche und Schweizer Zeitungen, zweifacher Egon-Erwin-Kisch-Preisträger und promovierter Jurist, lacht jetzt.

Das wird er oft gefragt, warum in seinen Artikeln so viele Zahlen vorkommen, warum eine Telefonnummer nicht bloß eine Telefonnummer, sondern die Telefonnummer 55 10 01 15 ist oder Annely und Alois nicht einfach, wie jedes Jahr, nach Gran Canaria fliegen, sondern mit dem Flug VS 419, Baggage Identification Tag 278040 und Baggage Identification Tag 377309.

Wirklichkeit

„Die Redakteure sagen dann: Jetzt kommt der wieder mit seinen Postleitzahlen“, sagt Erwin Koch. „Für mich sind die Zahlen wie Farbtupfer, die Geschriebenem Authentizität geben, unsinnliche Fakten, die Schönes kontrastieren.“ Er sagt: „Wenn ich so viele Details habe, dass eine Geschichte alleine steht, kann durch das Schildern der Fakten eine ganze Welt eröffnet werden, ein ganzer Kosmos.“

Und wie haben Sie Annelys Details gefunden?

„Da, am Tisch“, sagt er auf seinem Holzstuhl, die Rechte baumelt über der Lehne, die Linke zeigt. Es ist ein langer Tisch mit wenig darauf, einer Kerze, Croissants, gelben Rosen, etwas welk. Dahinter die Aussicht auf die Berge und Schnee. In Hitzkirch ist Erwin Koch geboren, in Hitzkirch lebt er wieder, 4.700 Einwohner und Einwohnerinnen, zwanzig Kilometer nördlich von Luzern. Die Häuser hier haben Fensterläden, der Käsekuchen heißt hier Käsechüechli.

Das hört sich nach was an

Bild: taz

Diesen und viele andere spannende Text lesen Sie in der sonntaz vom 31. März/1. April 2012. Am Kiosk, eKiosk oder im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz

Da am Tisch, sagt Koch und zeigt auf den Tisch, sei Annelys Schwester gesessen, eine Bekannte, sie lebt ein paar Dörfer weiter. Annelys Schwester erzählte von Annelys Liebe zu Alois und wie er, kurz bevor er starb, Knochenmarkkrebs, Nierenversagen, Dialyse, Azidose, Kaliumsenkung, Chemotherapie, wie er als Letztes sagte: „Heute Mittag will ich ein Kotelett!“

Erwin Koch dachte: „Das hört sich nach was an.“ Er besuchte Annely, auch sie lebt ein paar Dörfer weiter, er fragte sie nach Alois. Beim ersten Mal erzählte sie vom kalten Kaffee, beim dritten Mal öffnete sie ein Kästchen mit alten Fotos und Erinnerungen und sprach davon, dass Alois Tomatensalat liebte.

Daheim schneit es und hier blühen alle Blumen, Reichhaltiges Buffet im Garten, Herrlicher Strand, Alois liebt Tomatensalat, schreibt Erwin Koch später in seiner Geschichte, die die erste ist im Buch, das neun seiner Liebesreportagen enthält, erschienen 2011, Titel: „Was das Leben mit der Liebe macht“; es ist die Geschichte, die „Aber sonst: ganz nett. Alois und Annely“ heißt, die Erwin Koch aber anders nennt. „Die Annely“, nennt er sie bloß.

Koch ist aufgestanden, um den dritten Kaffee zu kochen, weil der zweite schon kalt ist, die Küche schmucklos, das Porzellan hinter Glas.

Warum, Herr Koch, schreiben Sie so sachlich und kommentarlos?

„Es braucht meinen Senf nicht dazu“, sagt er, das Geschirrtuch über der Schulter, „es braucht mich nicht. Es wirkt stärker, wenn ich die Menschen agieren lasse. Und letztendlich ist es so: Je älter ich werde, desto weniger traue ich mich, zu urteilen.“

Und so ist das Besondere seiner Texte etwas, das sich nur schwer beurteilen lässt: Etwas, das man nicht sieht. Eine Verbindung. Eine enge Freundschaft. Oder eben: Eine Routine, die sich zwischen zwei Partner drängt.

Kann es sein, dass Sie all Ihre Protagonisten mögen?

„Ich glaub’, das stimmt“, antwortet Erwin Koch. Er hat eine Frau getroffen, die ihrem Mann Schlafmittel in den Saft mischte. Und eine andere Frau, die zu ihrem Mann hielt, obwohl der die gemeinsamen Kinder missbrauchte. Er hat den Mann getroffen, der den Lotsen erstach, der 2002 die Kollision zweier Flugzeuge über dem Bodensee verantwortete, Boeing 757, zwei Insassen, Tupolew 154, 69 Insassen, darunter Frau und Kinder des Mörders. „Ich glaub’, das stimmt.“

Waren Sie eine schwierige Geburt

Manchmal, erzählt er – die Stimme klar, der Schweizer Akzent nur leicht –, käme er in eine regelrechte Sucht hinein, dann könne er schlecht aufhören, Daten zu sammeln, Telefonnummern, Hausnummern. Dann hoffe er, „dass noch mehr und noch mehr kommt“. Dann denke er, „ach, wie schön wär’ das, wenn ich jetzt noch wüsste, was die damals gegessen haben“, lange, nachdem er die Frage gestellt hat, die er jedem seiner Protagonisten als Erstes stellt: „Waren Sie eine schwierige Geburt?“ Nicht, weil er daraus einen Schluss ziehen würde, eine Interpretation gar, bloß, sagt er, „weil das einen netten Relativsatz geben könnte, wenn jemand einen Monat zu früh oder zu spät geboren wurde“.

Koch ist aufgestanden, um seine Unterlagen zu holen, Rechercheergebnisse, sortiert, in Klarsichtfolie, mit Deckblatt und Seitenzahlen. „Wenn ich schreiben muss, stehe ich um vier Uhr auf, der Bildschirm ist leer, das ist der schwierigste Moment. Dann dauert es eine Stunde, bis ich den ersten Satz hab’, aber auch nicht viel länger als das.“ Erste Sätze wie diese:

Da ist, einerseits, diese Frau.

Oder:

Rosenberg starb geduscht.

Oder:

Hast du schon einmal geküsst?

„Schreiben Sie das auf: Man soll nicht über die Liebe schreiben“, sagt Erwin Koch, „sondern über die Liebenden.“ Und: Darum, vielleicht, mögen die Leute Liebesgeschichten, weil es eine Ursehnsucht ist, geliebt zu sein. „Wahrscheinlich noch mehr, als selbst zu lieben.“

Und warum enden Ihre Geschichten dann meist tragisch?

„Das frage ich mich auch.“ Koch, der gar nicht findet, dass er Liebesgeschichten schreibt und glaubt, der Eindruck, er schreibe sie, ergäbe sich nur durch den Titel des Sammelbands, „Was das Leben mit der Liebe macht“, fährt sich über den Bart. „Ich fürchte“, sagt er, „Geschichten, die kein glückliches Ende haben, sind die besseren Geschichten. Lebensentwürfe gehen nicht auf, Themen wie Verrat und Ohnmacht spielen eine Rolle, wie die Dinge ihren Lauf nehmen, und es gibt einen eindeutigen Höhepunkt, einen Abschied, Mord, Selbstmord.“ Romeo und Julia fallen ihm ein. Werther und Lotte. Ferdinand und Luise.

Aber in Romeo und Julia ist es, neben den verfeindeten Montagues und Capulets, die Liebe selbst, die eine gemeinsame Flucht nach Irgendwohin, im Sonnenuntergang versteht sich und mit „Wenn sie nicht gestorben sind …“, verhindert. Hätte Romeo nicht sterben wollen, weil er Julia für tot hielt und sein Leben für lebensunwürdig ohne sie, sie wäre 42 Stunden, nachdem sie ihren Schlaftrunk geschluckt hatte, aufgewacht, er hätte sich nicht vergiftet, sie hätte sich nicht erdolcht, der Sonnenuntergang wäre möglich gewesen, die Flucht sowieso.

Fiktion

Auch der leidende junge Werther hätte sich – ginge es im Stück wie bei Erwin Koch um das Leben und nicht um die Liebe – vermutlich nicht in den Kopf geschossen, um sich der schönen Lotte ein für allemal fernzuhalten, nachdem diese sich als Reaktion auf seine Küsse im Nebenzimmer einschloss. Und „Kabale und Liebe“, das Stück, in dem so viel Mächtiges die Tragik verursacht, Standesschranken, Intrigen, Religion, endet ganz klassisch mit Eifersucht, die Ferdinand dazu bringt, seine Luise umzubringen und sich gleich mit.

Bei Koch aber ist die Liebe nur ein Alltagsfaktor, der sich im Handlungsverlauf bemerkbar macht und ihn verschiebt, manchmal ein großes Stück, manchmal ein kleines.

Und wie, Herr Koch, geht Ihre eigene Liebesgeschichte?

„Gut, seit dreißig Jahren, sie war die Aktive. Die beste Zeit war damals, als wir in Hitzkirch in ein kleines Hexenhaus zogen, unbewohnbar eigentlich, Ursula schwanger mit Nina. Alles war Zukunft, alles Aufbruch“, antwortet er. Mehr nicht.

Nur das noch: Erwin Koch, der von sich sagt, ziemlich angstfrei zu sein, hat am meisten Angst davor, „dass etwas nicht klappt“.

Die Annely zum Beispiel, die musste er noch mal neu schreiben, nach drei, vier Stunden, der Reihe nach.

Nacht für Nacht – so endet jetzt die Annely –, spätestens um halb zwölf, steht Annely auf ihrem Balkon und schaut hinauf zu Alois. Annely ist jetzt achtzig und Alois ein Stern.

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