piwik no script img

Litauen in der Sackgasse

■ Weitere Aktionen der Sowjetarmee / Landsbergis: „Blutige Gewaltanwendung“, „offene Aggression“

Berlin (taz) - Der litauische Frühling geht wohl seinem vorläufigen Ende zu. Fast unbemerkt hat das sowjetische Militär klargemacht, daß es in Vilnius schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Die Proteste Litauens wirken dagegen immer hilfloser.

So entschied das litauische Parlament am Montagabend, daß Personen, die „Gebäude und andere Objekte“ besetzen, eigentlich strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen seien. Ein Generaloberst der Luftlandetruppen erklärte aber, die Aktionen der Streitkräfte seien „normale geplante Übungen“ und „Schutzmaßnahmen„; sie richteten sich lediglich gegen den Versuch, eine Landwehr sowie Grenzpfähle aufzustellen.

Die „geplanten Übungen“ wurden am Dienstag planmäßig fortgesetzt: in Vilnius und Kaunas wurden zwei Krankenhäuser von Sowjetsoldaten gestürmt und dort versteckte Deserteure wurden festgenommen. Weiterhin spazierten moskautreue Kommunisten zusammen mit sowjetischen Fallschirmjägern in das ZK-Gebäude der unabhängigen litauischen KP und besetzten es ebenfalls.

Präsident Landsbergis wählte mit zunehmender Machtlosigkeit einen immer schrilleren Ton, um diese Zuspitzung zu verdammen. Das Vorgehen der Militärs sei ein „offener Akt der Aggression“ und „blutige Gewaltanwendung“. Er kritisierte den Westen für seine Nachgiebigkeit und forderte nicht näher bezeichnete Hilfe.

Er berichtete über einen angeblichen Telegrammwechsel zwischen US-Außenminister Baker und dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse und meinte, dies sei eine Neuauflage des Hitler-Stalin-Paktes.

Gorbatschow meinte unterdessen bei einem Treffen mit US -Senator Kennedy, man werde gerecht verfahren. Landsbergis behauptete jedoch, Gorbatschow habe Gewalt angedroht, falls das Leben von Zivilpersonen gefährdet sei. „Diese Bedrohung können sie sehr leicht selber schaffen“, sagte er und stellte damit Gorbatschow und die Konservativen in eine Ecke. Auch die litauische KP hofft nicht mehr auf eine gütliche Einigung: sie will sich in „Sozialdemokratische Union“ umbenennen.

Die moskautreue KP in Litauen wählte unterdessen den von der 'Pravda‘ kritisierten „deutschen“ Weg und rief zur Bildung von Bürgerkomitees auf.

Auch in Estland regen sich die Moskautreuen. 123 der 668 Delegierten beim dortigen KP-Parteitag gingen am Sonntagabend nicht nach Hause. Sie wählten stattdessen ein eigenes ZK, um sich von der nunmehr unabhängigen estnischen KP zu trennen.

International ist man ratlos. Washington sei über das Ganze „unglücklich“, ließ Präsident Bush verlauten. Mehrere Zeitungen ziehen Vergleiche zur Situation in der CSSR vor dem 20. August 1968.

Dominic Johnson

S.7: Ein Bericht aus Vilnius

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen