Linke-Kandidatin in Hessen: Die Vorzeigefrau
Janine Wissler ist eine Hoffnungsträgerin der Linken in Hessen. Manche sehen in der 27-Jährigen eine trotzkistische Kaderfrau, andere zeichnen das Bild einer rhetorisch aalglatten Pragmatikerin.
Die Kandidatin: Janine Wissler war im aufgelösten Landtag stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken. Die 27-Jährige studiert in Frankfurt Politikwissenschaften, sie gehört dem Landesvorstand und dem Bundesvorstand der Partei an. Bis zu dessen Auflösung im September 2007 gehörte Wissler dem trotzkistischen Linksruck an, sie ist Mitbegründerin des marxistischen Netzwerks Marx.21. Die Wahl: Bei der Landtagswahl am 18. Januar 2009 können 4,38 Millionen Hessen 110 Abgeordnete in den Wiesbadener Landtag wählen. Die Neuwahl nach nur einem Jahr ist nötig, weil der Regierungswechsel zu Rot-Grün - unter Duldung durch die Linkspartei - am 3. November gescheitert war: Einen Tag vor der geplanten Wahl der SPD-Frau Andrea Ypsilanti hatten ihr vier Fraktionsmitglieder die Gefolgschaft gekündigt. Ihre Partei: Die Linke tritt am 18. Januar mit 55 Kandidatinnen und Kandidaten an. Die Prognosen sehen die Partei bei 5 bis 6 Prozent, 2008 klappte der Einzug in den Landtag gerade so mit 5,1 Prozent. Janine Wissler wurde diesmal auf Platz 3 gewählt, in ihrem Frankfurter Wahlkreis heißt die SPD-Konkurrentin Andrea Ypsilanti. Vor Wissler stehen die 50-jährige Parlamentarische Geschäftsführerin Marjana Schott sowie der als ruhig und pragmatisch geltende Willi van Ooyen, 61, auf der Liste. Mit ihm als Fraktionsvorsitzendem, sagt Wissler, "kann ich gut leben".
Mit achtzig Sachen brettert der Mazda-Kombi durch die menschenleere Innenstadt. Es eilt mächtig, die Kandidatin muss den letzten ICE nach Frankfurt kriegen. In Kassel-Wilhelmshöhe angekommen, stoppt der Fahrer den Wagen, Janine Wissler springt heraus. Ihr roter Wollmantel steht offen, die Laptoptasche hat sie eng an den Körper gepresst, sie spurtet zum Gleis 2. Es ist 22.21 Uhr, in zwei Minuten geht der Zug. Sie schafft ihn, gerade so.
Es war ein langer Abend für Janine Wissler. Im Kasseler Philipp-Scheidemann-Haus hat die Kandidatin der Linkspartei ein Referat gehalten. Thema "Gute Bildung und gleiche Bildungschancen für alle". Dreizehn Zuhörer sind der Einladung gefolgt, dreizehn, von denen vier am 18. Januar selbst für Linkspartei kandidieren. Unter kaltem Bürolicht verliert sich die Gruppe in dem viel zu großen Raum, vorn spricht die Kandidatin über hessische Bildungspolitik. Es ist von ihr viel über Ausgrenzung und Ungerechtigkeit zu hören, einige Zuhörer machen sich Notizen. Sie könnten die Eltern, einige auch die Großeltern der 27-jährigen Referentin sein. Im Vorgespräch hatte Janine Wissler gesagt, Wahlkampf mache ihr "sehr viel Spaß". Schaut man in die müden Gesichter, fragt man sich, was eine junge Frau treiben mag, an einem derart trostlosen Ort mit Menschen Argumente auszutauschen, die hier eh alle teilen.
Aber Janine Wissler ist nicht so leicht zu frustrieren. Das sollte sie auch nicht, denn sie ist die Hoffnung der Linkspartei und zudem mitten im Wahlkampf, ihrem zweiten binnen eines Jahres. Nachdem Anfang November der Traum von Kochs Abwahl geplatzt ist, müssen die Hessen am 18. Januar noch einmal an die Urnen. Die Wahl im letzten Jahr brachte sechs Abgeordnete der Linken in den hessischen Landtag, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende hieß: Janine Wissler. Diesmal könnte es verdammt knapp werden für van Ooyen und Co. Verpatzen sie den Wiedereinzug, ist der Traum von radikal linker Opposition in Hessen für die nächsten fünf Jahre ausgeträumt.
"Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn wir da rausfliegen", sagt Janine Wissler, gefragt nach ihrer Prognose für den 18. Januar. "Ich könnte mir das nicht erklären, unsere Wähler sind ja ziemlich treu", sagt sie. Es ist halb sechs Uhr abends, die Kandidatin hat sich vor der Veranstaltung im Scheidemann-Haus eine Stunde Zeit zum Reden genommen. Nun sitzt sie hier im Bahnhofscafé, trinkt Tee, streicht sich das lange dunkle Haar hinters Ohr. Sie ist von ruhiger Freundlichkeit und entspricht keineswegs dem Ruf, der ihr vorauseilt.
Eine trotzkistische Kaderfrau sei sie, sagen manche, die druckreif reden könne und dabei ihre Sache stets fest im Blick behalte. Eine, die mit anderen Betonkommunisten dafür gesorgt habe, dass aus "Linksruck", einer trotzkistischen Gruppe, "Marx.21" wurde, eine ideologische Plattform mit revolutionärer Attitüde, die den innerparteilichen Reformern das Leben schwer mache, weil sie jede Regierungsbeteiligung ablehne.
Andere wieder meinen, Janine Wissler werde vorgewärmt für die Bundespolitik, gerade sei sie dabei, sich auf dem hessischen Landesparkett die sozialromantischen Hörner abzustoßen. Das sehe man schon daran, dass aus der knallharten Oppositionspolitikerin binnen weniger Monate eine Pragmatikerin geworden sei, bereit stillzuhalten, um Rot-Grün zur Macht zu verhelfen. Aalglatt. Zudem habe Parteichef Oskar Lafontaine persönlich sie unter seine Fittiche genommen, so wie es zuvor der hessische Bundestagsabgeordnete Werner Dreibus getan habe.
Tatsächlich ist es so, dass bis zum Einzug der Linken in den Wiesbadener Landtag kaum etwas bekannt war über die neue Abgeordnete. "Janine wer?", fragte man sich. Schnell war die Geschichte vom WASG-Mädel im Umlauf, das sich von den alten Parteimännern protegieren lasse - etwas anderes sieht die Vorstellungswelt der meisten Berichterstatter offenbar nicht vor. In der Tat, viel wusste man nicht über die gut aussehende Politikwissenschaftsstudentin im damals 13. Semester. Wer ist also die junge Hoffnung der Linken? Janine Wissler kommt aus der Mittelschicht. Der Vater ist Verkaufsleiter im Einzelhandel, die Mutter Angestellte einer Autoversicherung. "Die haben sich hochgearbeitet", sagt die Tochter über ihre Eltern.
Schaut man sich an, ich welch unruhige Zeit die Wisslers ihr Kind hineingeboren haben, und weiß man, dass bei ihnen daheim in Neu-Isenburg viel über Politik - linke Politik - gesprochen wurde, mutet es unausweichlich aus, dass Janine eine Menge Fragen hatte. Und dass ein aufgewecktes Mädchen, dessen Mutter sich in den 70er-Jahren in der DKP engagiert hatte, die Entscheidung gefällt haben mag, selbst etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen verändern zu wollen.
Kurz vor ihrem fünften Geburtstag explodiert im fernen Tschernobyl ein Reaktor, noch heute kann sie sich deutlich an diesen 26. April erinnern. Als sie neun Jahre alt ist, fällt die Mauer, im Jahr darauf reisen die Eltern mit ihr nach Dachau, ihre Tochter soll sehen, was der deutsche Faschismus seinen Opfern angetan hat. "Ein ziemlicher Schock" sei das für sie gewesen, "aber vielleicht hatten meine Eltern das auch ein bisschen einkalkuliert". Als Janine elf ist, brennen in Rostock und Mölln die Häuser von Flüchtlingen, ein Jahr später sterben in Solingen fünf Menschen bei einem Anschlag. Golfkrieg, Falklandkrieg, Kosovokrieg - dem Kind muss die Welt als gewalttätig, zerstörerisch und ungerecht erschienen sein. Mit vierzehn Jahren tauchte sie bei den hessischen Jusos auf. Aber das, sagt sie, "war eigentlich nicht so meins."
Was ihrs war, fand sie als Abiturientin heraus. Im Januar 2000 gründen fünfzig NGOs die deutsche Attac-Sektion, im Jahr darauf wählen die Frankfurter die Politikstudentin Janine Wissler zu ihrer Sprecherin. Und als der Protest gegen die rot-grüne Agenda 2010 hochkocht, gründet Wissler mit anderen die hessische WASG. Weiß sie, die Tochter aus der Mittelschicht überhaupt, was die Leiharbeiter und Hartz-IV-Betroffenen umtreibt? Sie kann auf Erfahrungen zurückgreifen kann. Denn außer Studium und Gremienarbeit musste sie sich auch Essen und Miete finanzieren: Sie arbeitete als Aushilfe in einem Baumarkt. Und wie bisher stets in ihrem Leben, fing die Sache an, sie zu interessieren, als sie für sie inakzeptabel wurde.
"Ich wollte da eigentlich ganz schnell wieder weg", erzählt sie, "das hat mir gestunken, dass ich da Mädchen für alles war. Und da hab ich gedacht, jetzt fang ich einfach an, mir Sachen beizubringen." Sie setzt ihre sorgfältig manikürten Hände ein, wenn sie erzählt, wie sie sich von der Lampenabteilung über Farben und Tapeten durchgeackert hat, wie sie Fachbücher gewälzt hat und die Kunden sie für ihre gute Beratung gelobt haben. "Und als ich gerade dabei war, mir noch die Sanitär- und Fliesenabteilung zu erschließen, hab ich den Job gewechselt." Der Job war eine Teilzeitstelle im Büro von Werner Dreibus, der 2005 über die Landesliste der Linkspartei.PDS in den Bundestag gekommen war. Zwei Jahre später sollte sie für die Linke in den Wiesbadener Landtag einziehen.
Also doch die Ziehtochter alter Männer? "Ich habe die WASG gegründet, bevor Lafontaine überhaupt in der Partei war", sagt sie. Dass Frauen nicht zugetraut wird, machtbewusst zu sein, politische Arbeit aus eigener Überzeugung zu machen, ärgert sie. Politikerinnen würden gern mal abgewertet: "Angela Merkel ist und bleibt Kohls Mädchen - aber bei Steinmeier sagt keiner, das ist ja Schröders Bub."
Sie hat gerade erlebt, wie es Frauen ergeht, die öffentlich scheitern. "Ich bin kein Ypsilanti-Fan", sagt sie, "aber gegen die läuft eine Hetzkampagne." Und dass Leuten wie den vier SPD-Abweichlern, die Kochs Abwahl verhindert haben, dann gar Sympathien zufliegen, "habe ich mir nicht träumen lassen". Doch auch wenn der Partner gegen die CDU wankt, warnt sie davor, die SPD zu unterschätzen. "Die ist noch lange nicht erledigt", sagt sie, "die hat enorme Möglichkeiten, sich wiederherzustellen."
Wie aufs Stichwort klingelt ihr Handy. Sie lauscht, lächelt, murmelt zustimmend. Es ist der Neue von der SPD, ein freundlicher Vorweihnachts-Smalltalk unter Landtagskollegen. "Ein tapferer Parteisoldat sind Sie, Herr Schäfer-Gümbel", spricht die Kandidatin in ihr Handy, "bei euch ist es hart." Und dann: "Alles Gute!" Den Kampf um linke Wähler stellt man sich irgendwie anders vor, unerbittlicher und prinzipieller.
Sie muss jetzt auch los, im Scheidemann-Haus warten die Genossen auf die junge weibliche Hoffnung der Linkspartei. Die schlüpft in den roten Mantel, klemmt die Laptoptasche unter den Arm, der Abend wird wieder lang, es ist Wahlkampf in Hessen. Und um 22.23 Uhr geht der letzte ICE.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!