Lieferkettengesetz in Europa: Die Schweiz liefert nicht
Die EU hat bald ein Lieferkettengesetz – die Schweiz hinkt hinterher. Nun soll eine Volksinitiative Schweizer Großkonzerne in die Pflicht nehmen.
Die Schweizer:innen hatten im November 2020 mit 50,7 Prozent hauchdünn für die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative gestimmt. Doch die bei einer Volksinitiative in der Schweiz ebenfalls notwendige Zustimmung einer Mehrheit der Kantone wurde nicht erreicht. Die Initiative forderte, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte und internationale Umweltstandards auch außerhalb der Schweiz zu respektieren haben – ein Schweizer Lieferkettengesetz.
Die EU-Richtlinie ist, was Umwelt- und Klimaschutz betrifft, im Vergleich zur gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz weiter gefasst. Bezüglich der Mindestgröße der betroffenen Unternehmen ging das Schweizer Vorhaben jedoch weiter als jenes der EU.
Vor der Abstimmung hatte eine orangefarbene Welle die Schweiz erfasst. Orangefarbene Fahnen, die für die Initiative warben, hingen an Gartenzäunen, Fenstern und Balkonen. Bei den Regeln für Schweizer Firmen sollte es keinen Schweizer Alleingang geben, sondern ein „international abgestimmtes“ Vorgehen. Das war das wichtigste Argument der Schweizer Regierung gegen die Volksinitiative zur Konzernverantwortung – obschon es praktisch in allen europäischen Staaten schon solche Gesetze gab.
Keine Sanktionen
In der Folge trat 2022 ein Gegenvorschlag des Parlaments in Kraft, der weniger weit ging als die Initiative. Dieser enthält Berichtspflichten und zusätzliche Sorgfaltspflichten in einzelnen Bereichen wie Kinderarbeit. Bei Verstößen drohen keine Sanktionen.
Diese „Reporting“-Pflicht stützt sich auf eine EU-Regelung, die schon seit 2014 gilt. 2022 wurden die Vorgaben in der EU nochmals verschärft. Obwohl die EU schon bald ein Lieferkettengesetz haben dürfte, plant die Schweiz erst einmal nur eine Angleichung an die verschärfte „Reporting“-Pflicht der EU von 2022. Eine Einführung eines Lieferkettengesetzes ist nicht geplant. Heißt: Ab diesem Jahr müssen Schweizer Unternehmen erstmals über das Vorjahr berichten – nach den alten EU-Vorgaben von 2014.
Davon ist wohl wenig zu erwarten. Die EU-Kommission erarbeitete bereits 2020 eine Studie, die die Wirksamkeit der Berichterstattungspflicht untersucht hat. Sie fasste das Resultat so zusammen: „Die Ergebnisse zeigen, dass freiwillige Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen, Umwelt- und Klimaschäden durch Unternehmen, obwohl sie durch die Berichterstattung gefördert werden, nicht zu den notwendigen Verhaltensänderungen geführt haben.“
Aktiv dafür sorgen, dass Mindestlöhne gezahlt werden
Darum erarbeitete die EU eine Lieferkettenrichtlinie, die mit dem wahrscheinlichen Ja des EU-Parlaments am 24. April beschlossen werden dürfte. Dann müssten hiesige Auftraggeber aktiv dafür sorgen, dass es bei den Zulieferern nicht zu Kinder- und Zwangsarbeit kommt, Mindestlöhne gezahlt werden, Mindesturlaub gewährt wird, die Beschäftigten unabhängigen Gewerkschaften beitreten können und Agrarkonzerne das Land benachbarter Bauern nicht vergiften. Ein solches Gesetz galt bisher zwar schon in Deutschland und in anderen Staaten, aber nicht europaweit.
In der Schweiz stehen gleich mehrere große Konzerne immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen und der Verursachung von Klimaschäden in der Kritik. So gibt es Berichte über den Rückversicherer Swiss Re, der in Brasilien illegal abgeholztes Agrarland versichern soll, über die schmutzigen Methoden beim Kohleabbau einer Zuger Rohstoffgruppe in Borneo oder darüber, wie Nestlé zusammen mit dem Schweizer Wirtschaftsministerium gegen die mexikanische Gesundheitspolitik vorgeht.
Das Schokoladenunternehmen Lindt & Sprüngli soll in Ghana nur lückenhaft die Kinderarbeit auf den Kakao-Plantagen überwachen, und in Kolumbien und Peru wird dem Rohstoffkonzern Glencore „ein giftiges Erbe“ zur Last gelegt. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Schweizer Unternehmen müssen mit Auswirkung rechnen
Doch bleibt die Schweiz vom neuen EU-Lieferkettengesetz, das solche Missstände verhindern könnte, wirklich verschont? Tatsächlich wird das Gesetz auch für große Unternehmen aus Drittstaaten gelten, also auch für Schweizer Unternehmen, die in der EU einen Jahresumsatz von mindestens 450 Millionen Euro erzielen. Als Zulieferer großer Firmen könnten auch kleine und mittlere Unternehmen aus der Schweiz betroffen sein.
Eine Studie des Basler Beratungsbüros BSS und des deutschen Öko-Instituts im Auftrag der Schweizer Regierung zeigt, dass Schweizer Unternehmen „mit erheblichen Auswirkungen rechnen müssen – und zwar unabhängig davon, ob die Schweiz die EU-Regeln übernimmt oder nicht.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Insgesamt würden rund 160 bis 260 Schweizer Unternehmen direkt unter die Drittstaatenregelung der neuen EU-Richtlinie fallen. Weitere zehntausende Schweizer Firmen würden mittelbar betroffen sein. So jedenfalls lautete die Schätzung, bevor das Gesetz in diesem Jahr in der EU auf Druck der deutschen FDP deutlich entschärft wurde.
Allerdings dürften wohl auch mit der neuen Fassung einige Schweizer Unternehmen betroffen sein. Zwar seien „positive Auswirkungen auf Nachhaltigkeit und Schutz der Menschenrechte plausibel, aber mit großen Unsicherheiten behaftet“, heißt es in der Studie. Doch für viele Unternehmen könnten „teils enorme Kosten und Haftungsrisiken entstehen“.
Lieferkettengesetz ist ein wichtiger Schritt
Diese seien zu wenig darauf vorbereitet. Das Justiz- und das Wirtschaftsministerium der Schweiz teilten mit, man werde die Studie des Basler Beratungsbüros und des Öko-Instituts aktualisieren lassen, sobald die EU das Lieferkettengesetz definitiv verabschiedet habe. Nach einer „vertieften Analyse und unter Beobachtung, wie die Mitgliedstaaten der EU die Richtlinie umsetzen“, werde die Schweizer Landesregierung über das weitere Vorgehen entscheiden. Heißt: Die Regierung will erst mal beobachten und abwarten.
Angesichts des erforderlichen Umsatzes von 450 Millionen Euro in der Europäischen Union sind viele Schweizer Unternehmen nicht vom EU-Lieferkettengesetz betroffen. Darum macht die Koalition für Konzernverantwortung, der Nachfolgeverein der Organisation hinter der 2020 gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative, weiter: „Es braucht ein Schweizer Gesetz, das sicherstellt, dass Betroffene von Menschenrechtsverletzungen am Konzernsitz in der Schweiz Schadenersatz einfordern können“, sagt Isabelle Bamert, die im Vorstand der Organisation sitzt. Das Gesetz soll sich daran orientieren, wie es bald in der EU geregelt sein wird, wo Unternehmen, falls sie eine Mitverantwortung für Schäden tragen, vor europäischen Gerichten verklagt werden können.
Das EU-Lieferkettengesetz sei ein wichtiger Schritt, damit Konzerne die Menschenrechte einhalten und die Umwelt nicht zerstören, sagt Bamert: „Für uns ist klar, dass wir nach finaler Verabschiedung der EU-Richtlinie auch in der Schweiz einen neuen Anlauf starten.“ Es dürfe nicht dazu kommen, dass die Schweiz das einzige Land in Europa ohne Konzernverantwortung werde. Schon diesen Sommer könnte es so weit sein: Eine neue Volksinitiative wird lanciert, die sich an der EU-Regulierung orientiert.
Doch warum sollte es beim zweiten Anlauf klappen? Meinungsumfragen zeigten, dass die Bevölkerung in der Schweiz ein Konzernverantwortungsgesetz unterstütze, sagt Bamert. In der Tat wird das Argument des „Schweizer Alleingangs“ nach Inkrafttreten der Lieferkettenrichtlinie in der EU nicht mehr haltbar sein.
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