Liebling der MassenUli Hannemann : Eingriff in die DNA der Knallerbse
Die Schneebeeren sind reif. Dick und weiß hängen sie am Knallerbsenstrauch. Für uns Kinder war die Schneebeerensaison mit Abstand die schönste Jahreszeit. Wir pflückten die Beeren, schmissen sie auf den Boden und es knallte. Das war unser größtes Vergnügen – es gab ja sonst nichts. Nun gehe ich achtlos an dem Strauch vorüber. Denn die Schneebeeren sind zwar äußerlich größer, schöner und weißer als früher, doch sie knallen nicht mehr.
Wie hatte ich mich vor Silvester noch darauf gefreut, damit zu knallen und dem offiziellen Böllerverbot so ein Schnippchen zu schlagen. Die Pandemie-Diktatur kann mich mal. Ich lasse mir das Feiern nicht verbieten. Dazu ein paar fette Seifenblasen in die Luft pusten und eine Orgie mit Mineralwasser, und zwar keine laue Mediumplörre für Spießer und Angsthasen, sondern „Classic“, das so wild und verwegen sprudelt, dass es manchmal sogar aus der Nase wieder rauskommt, wenn man es direkt aus der Flasche trinkt, was ich zu diesem Anlass ja auch tue – man lebt schließlich nur einmal. So hatte ich mir das vorgestellt.
Doch dann die Enttäuschung: So fest ich die Beeren auch auf den Boden schmettere, ist bei über hundert Versuchen bestenfalls ein leises Plopp zu hören.
In meiner Kindheit haben die ja noch richtig laut gekracht. So weiß es zumindest meine Erinnerung, in der sich eine Schneebeere im Sound nur marginal von einer Handgranate unterscheidet. Es kann schon sein, dass uns als Kindern alles viel intensiver vorkam, bunter, lauter, größer und auch länger andauernd. Gerüche, Geschmäcker und Geräusche – jeder Sinneseindruck wurde so zu einem einzigen Fest.
Bessere Attrappen
Doch nun müssen die was an der Beeren-DNA verändert haben, damit sie nicht mehr knallen. Scheißstaat. Bestimmt haben irgendwelche freidrehenden Helikoptereltern dafür gesorgt, dass jetzt im Grunde bessere Attrappen an den Büschen hängen. Der Knall einer Schneebeere darf den Kinderchen heutzutage offenbar nicht zugemutet werden.
Weil die sich sonst erschrecken und noch mehr Allergien entwickeln oder Posttraumatische Belastungsstörungen. Die böse Wirklichkeit da draußen muss unbedingt von ihnen ferngehalten werden. Sonst verklagen die Eltern das Gartenbauamt, und dann wird es richtig teuer. Die konfliktscheue Regierung knickt natürlich ein.
Außerdem könnten Schwerhörige diskriminiert werden, weil ihnen der Spaß der Knallerei entgeht, und deshalb soll aus Fairnessgründen keiner Spaß haben. Es ist ein moralisierendes Trommelfeuer, das uns noch alle hinwegfegen wird. Das weiß doch jeder, der NZZ, Compact oder auch nur ein Interview mit Dieter Hallervorden liest.
Aber vielleicht sollte man den Kindern einfach mehr zutrauen. Vormals lebhafte und neugierige Kinder verpuppen sich in einem Kokon aus Sicherheit, Langeweile und Verboten zu apathischen Zellklumpen. In dieser windelweichen Vollkaskowelt mit ihren Snowberries für Snowflakes wird jedes Risiko ausgeschaltet, und damit auch jedes Abenteuer. Wir sind damals noch zu acht besoffen in einem alten VW-Käfer ohne TÜV über den Acker geheizt, haben oben aus dem abgesägten Dach rausgeguckt, -gejohlt, -gekotzt, und uns dabei nicht selten überschlagen. Da ist natürlich auch der eine oder andere zu Tode gekommen, doch die auf diesem Wege spielerisch erworbenen Fertigkeiten wogen das allemal auf.
Denn wie sollen die heutigen Kinder bloß zurechtkommen, wenn bald mal wieder Krieg ist und sie dann noch nicht mal den Knall einer Schneebeere ertragen? Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht mal so schlecht. Es müsste nur auf der ganzen Welt so sein.
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