piwik no script img

Lieber Neurose als Konflikt

Das Ende aller Dinge findet im Wohnzimmer statt – Zu Martin Walsers neuem Roman „Ohne einander“  ■ Von Elke Schmitter

Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ endet in einem Wohnzimmer am See. Drei Menschen sitzen zusammen und bereiten sich auf den Tod eines Vierten vor, den sie im Sturm ertrunken wähnen. Es handelt sich um ein Ehepaar und eine junge Frau, verheiratet mit dem mutmaßlich Ertrunkenen und, wie wenig überraschend, vom anderen begehrt. Die gemeinsame Trauer, vor allem aber das Entsetzen darüber, wie begrenzt diese Trauer doch ist, bringt die drei an den Rand der Wahrheit: dorthin, wo man sie sehen und besprechen kann, wo das Leben stillsteht. Der Vierte, der Totgeglaubte taucht wieder auf und zwingt seine Frau mit fort; fort vom Rand der Wahrheit, zurück ins gemeinsame Leben.

Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ endet nicht in einem Wohnzimmer am See. Nach der geglückten Totenfeier, aus der eine mißratene Wiederauferstehung wurde, rettet sich das ältere Ehepaar noch schnell in einen Zug, der es nach Süden führt, fort vom gefährlichen See, fort von dem jüngeren Paar, fort vor allem von den Verheerungen der Eheseelen, welche die anderen beiden anrichteten. Die Flucht des Paares ist ein Appendix. Die letzte Offenbarung – daß nämlich die jüngere Ehe auf einer noch ungeheureren Anstrengung beruhte als die ältliche eigene, daß vor allem der so dynamisch, so lebensgewitzt, so siegreich-souverän wirkende Totgeglaubte nichts ist als ein Bündel aus Willen, eigener Verleugnung und fremder Projektion – findet also doch im Wohnzimmer statt. Sie bereichert die Fliehenden mit einer Einsicht, die sie als Paar bestehen läßt, mehr noch: beglaubigt. Tod, Offenbarung, Auferstehung: es geht gut aus, auch für die Leser.

Martin Walsers gerade erschienener Roman „Ohne einander“ endet in einem Wohnzimmer am See. Vier Menschen sitzen zusammen und bereiten sich auf den Tod eines Fünften vor, den sie im Sturm ertrunken wähnen. Es handelt sich um eine Familie; Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Der Totgeglaubte ist der Geliebte der Mutter, ging aber mit der Tochter erst ins Wasser, ins „Ufergewell“, dann auf die Wellen: er hatte sie davon überzeugt, daß er, der alternde Lebemann, seinen Körper nur jung und geschmeidig erhalten habe, um ihn ihr aufzwingen zu dürfen; erst als Liebhaber und dann als Surfpartner. Es gab ein Unwetter, die geübte junge Sportlerin konnte sich retten; das Schicksal des Liebhabers ist durchaus ungewiß.

Martin Walsers Roman „Ohne einander“ endet natürlich nicht in einem Wohnzimmer am See. Die vier Menschen laufen auseinander, die Männer für sich, die Frauen einander nach, zu einem wenig wahrscheinlichen Trost. Der Vater, ein Schriftsteller, geht hinauf in sein Arbeitszimmer, um sich wie gewohnt ein bißchen zu betrinken: dabei wird er sich Notizen machen, die er am nächsten Arbeitstag auf ihre Verwendbarkeit prüfen will. „Falls ein paar von diesen Wörtern die Nacht überlebten, konnten sie dem Roman, falls er den je schriebe, als Titel dienen. Er schloß eine Zeit lang die Augen. Dadurch, hoffte er, könnten sie wieder erlebnisfähiger werden. Er wollte es, wenn er sie wieder öffnete, ganz den Augen überlassen, sich für ein Wort oder für ein paar Wörter zu entscheiden. Als er die Augen wieder öffnete, wurden sie von zwei Wörtern angezogen, die größer waren als alle anderen. Die zwei übriggebliebenen Wörter kamen ihm vor wie ein Ergebnis, das ohne seine Mitwirkung zustandegekommen war. Er faßte Vertrauen zu diesen zwei Wörtern. Er strich alle anderen Wörter durch. Und es stand da: ohne einander.“

Wer „Ein fliehendes Pferd“ gelesen hat, den wird vielleicht nicht überraschen, daß auch dieses Buch schließt wie die Katze, die sich in den Schwanz beißt: da ist es der ältere Ehemann, der am Schluß der Novelle zu einer Erzählung des Geschehens anhebt, an seine Frau gerichtet. Und er beginnt mit dem ersten Satz ...

Zwischen beiden Büchern liegen fünfzehn Jahre, die man den Texten nicht anmerkt. In jener Sphäre, in der beide Geschichten spielen, veränderte sich substantiell doch nichts, allenfalls die Moden wechselten; Klaus trug eine enge Jeans, Ernest beeindruckt im kurzen Jackett, unter dem sich üppige Bundfalten wölben. „Wollte sie vielleicht diesem Herrn gefallen? Diesem Seidenanzug! Diesem Nichtsalszweireiher! Diesem Cremepatzen! Diesem Herrn Keinkilozuviel! ... Das war doch ein Mister Make up durch und durch. Und längst nicht mehr frisch. Aber immer noch herrschgierig, besitzergreifend. Der wollte sie. Schmerz, Anmaßung, Gier, Kapitulation. Alles gleich extrem. Und auch noch: daß er nichts dafür könne. Er sei so überrascht, überwältigt, erledigt. Und noch diese Jägerruhe. Diese Erfahrungsschläue.“ Vor allem aber ist Walsers Stil derselbe geblieben: diese glatte Oberfläche, ganz eben, ohne poliert zu sein. Als hätte der Autor vom Bodensee sich Oscar Wildes Pointe, nur oberflächliche Menschen urteilten nicht nach dem Schein, über den Schreibtisch gehängt, fließen seine Sätze in einem unerschütterlichen Maß, nehmen alles auf – Alltagssprache, Dialekt, Slang, Versatzstücke gängiger Theorien – und machen es gleich. Der permanente Gebrauch des Konjunktivs, die freundliche Möglichkeitsform, das unaufhörliche „als ob“, in dem er seine Protagonisten denken läßt und schreibt, verwischt jeden Unterschied zwischen Einsicht und Gerede, zwischen Poesie und Alltagssprache, zwischen Unmittelbarkeit und Geschwätz. Walser verwischt diese Unterschiede unnachsichtig: er annuliert sie zugunsten seiner spezifischen Textoberfläche, zugunsten seines Scheins.

Man kann Walsers Stil eine Kompromißbildung nennen, im Freudschen Sinne: ein Konflikt, der nicht gelöst wurde und sich folglich als Neurose formulieren muß. Denn Walser akzeptiert die Schwankungen der Sprache und ihre Unberechenbarkeiten sowie die Antagonismen des Materials, das Sprache zu fassen versucht. Eigentlich sagt er: schaut her, das geht vor im Kopf eines Chauffeurs, eines Oberstudienrats, einer Schülerin und Geliebten, einer Lehrerin und Ehefrau ... Aber er weiß, daß es ihm nicht gegeben ist, dieses Material einfach so vor uns auszubreiten, daß die Position des allwissenden Erzählers à la Thomas Mann für ihn ebenso unmöglich ist wie die Wirksamkeit der rücksichtslosen Darstellung à la James Joyce. Also ist Walser bescheiden, also macht er es ganz anders: mit jenem neurotischen Vorbehalt des „als ob“, in dem seine Figuren denken, beansprucht er für sich als Erzähler auch immer nur eine Wahrscheinlichkeit. Die Vorsicht, der geringe epistemische Rang, den jede indirekte Rede ausdrückt, ihre Unentschiedenheit: dieser Modus der Unbestimmtheit macht den Stil Walsers aus, jenen Redefluß, den er perfekt beherrscht.

Wie im richtigen Leben ist die Neurose interessanter als der Konflikt, weil sie individueller ist. Der hier in Rede stehende Konflikt des Erzählers, der ein Allwissender nicht mehr sein kann oder will, sprachlich aber auch zu zivilisiert und komfortabel gestimmt ist, um sich Unmittelbares, Fremdes, Rüdigkeiten und Überraschungen größeren Stils zu leisten – dieser Konflikt ist als solcher bekannt. Max Frisch ließ seinen Gantenbein sagen „Ich stelle mir vor“, bevor er zu erzählen begann. Jurek Becker versuchte es in seinem letzten Roman („Amanda herzlos“) mit Rollenprosa (und scheiterte daran: die drei verschiedenen Reden waren kaum zu unterscheiden), und auch Walser läßt hier drei Personen nacheinander erzählen, um nur ja keine Einseitigkeit, keine Endgültigkeit, keine Behauptung aufkommen zu lassen. Aber Walser vermeidet den Fehler Beckers, er täuscht nicht dreimal ein authentisches „Ich“ vor, das erzählt: es ist immer Walser, der spricht, der versucht, an den Gedanken seiner Personen entlang zu schreiben. Das kann man unterhaltsam oder gegenteilig finden, nicht zu leugnen aber ist, daß Walser mit keinem Satz in die Irre geht. Nur die Offenbarung, die bleibt aus – es sei denn, man betrachtet die Schlußworte des „ohne einander“ als Credo einer negativen Theologie. Doch wir bleiben beim Schein: der trügt nicht.

Martin Walser: „Ohne einander“. Suhrkamp Verlag, 226 Seiten, gebunden, 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen