Liebe: Eine Bedarfsgemeinschaft
In der DDR hat er sie im Gefängnis verhört. Heute sind sie verheiratet. Regina und Uwe Karlstedt sagen, da war Liebe, zwischen dem Stasi-Leutnant und der Dissidentin.
"Ich habe die Arschlöcher gehasst", sagt Regina Karlstedt. "Die haben zu Hause bei ihren Familien Weihnachten gefeiert, während man im Knast den eigenen Geburtstag vergessen hat." Uwe Karlstedt atmet laut hörbar ein. Er ist eins von diesen Arschlöchern.
Vor 26 Jahren war er Stasileutnant, linientreues Mitglied der SED. Sie war eine Staatsfeindin. Er verhörte sie in der Berliner Untersuchungshaftanstalt, nannte ihre Kontakte nach Westberlin "landesverräterische Nachrichtenübermittlung und staatsfeindliche Verbindungen". Durch die von ihm erbrachten "Beweise" wurde sie in diesem Jahr 1981 zu drei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt.
Während sie hinter Gittern Bettwäsche nähte, nach ihrem Freikauf nach Westberlin lange unter den Haftfolgen litt, Jura studierte, sich von ihrem Mann trennte und wieder heiratete, setzte er seine Karriere nahtlos fort. Bis Herbst 1989 hatte er es zum Major gebracht.
Seit neun Jahren sind der Stasimajor und die Staatsfeindin nun ein Paar: Regina und Uwe Karlstedt. Im vergangenen Herbst haben sie geheiratet. Im März wurde ihre Geschichte im Auftrag des MDR verfilmt, 2008 soll das Ergebnis in der ARD zu sehen sein.
Die Geschichte beruht auf einem Buch, das sie zusammen geschrieben haben. "Zwölf heißt: Ich liebe Dich". Der Titel leitet sich ab von Zahlenspielereien, mit denen sich die Staatsfeindin die Zeit vertrieb. Während ihr Vernehmer seine Protokolle schrieb, kritzelte sie neben Vögeln und Blumen Zahlen aufs Papier. Einfach so, für sich. Die 12, zwölf Buchstaben, stand für "Ich liebe Dich". Die 11 für "Du bist schön". Dass die beiden auf diese Art eine arithmetische Kommunikation betrieben haben, wie immer wieder in Artikeln behauptet wird, ist Unsinn. Sie sollte ihn erst 16 Jahre später über die Zahlen aufklären.
In dem gemeinsamen Buch schreibt Regina Karlstedt, es sei "Liebe auf den ersten Blick" gewesen, als sie ihrem Vernehmer das erste Mal gegenübersaß. Und dass er sie an eine Figur aus einem Traum erinnert habe. Rational lässt sich kaum erklären, was damals passiert ist. Er schildert, wie er einerseits fest entschlossen war, sich als tüchtiger Vernehmer zu beweisen. Dass er aber andererseits überrascht war, eine Beschuldigte zu treffen, die seinem "Ideal einer Frau entsprach", von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. "Ich konnte mich selbst sehen", schreibt er, "als einen jungen Karrieristen, eitel, aber unsicher, der eine Chance zum Aufstieg bekommen hat, seinerseits glaubt, das politisch und damit auch moralisch Richtige zu tun, und sich doch auf eine Weise zu dieser Frau hingezogen fühlt, dass er sich nur mit Mühe konzentrieren kann."
Heute, 26 Jahre später, sitzen Regina und Uwe Karlstedt ganz nah beieinander auf ihrem Sofa. Sie sind eingerahmt von Regalen mit Büchern und Videos, auf dem Tisch steht starker türkischer Kaffee, daneben liegen Tabak und Blättchen. Einer von beiden ist immer am Zigarettendrehen. Sie wohnen mit ihren drei Katzen in einer Plattenbauwohnung am Rande einer brandenburgischen Kleinstadt. Der Ort soll nicht genannt werden, über alles andere reden sie. Er über seine Gefühle - die Schuld und die Feigheit. Sie über ihre Gefühle - den Hass und die Zuneigung. Ihre Körper bleiben derweil stets beisammen. Mal fassen sie sich an den Händen, mal streicht sie ihm über den Oberarm, mal fährt er ihr über die Wange.
Die Karlstedts erwarten nicht, mit ihrer Geschichte auf Verständnis zu stoßen. Doch es ärgert sie maßlos, wenn in Rezensionen ihres Buchs steht, das Ganze klinge allzu kitschig und unglaubwürdig. "Das ist typisch deutsch", schimpft Uwe Karlstedt. Seine Frau sagt: "Jeder tut so, als ob er Kontrollmechanismen hätte. Ich weiß selbst, dass ich nicht dem typischen Bild eines Opfers entspreche." Auch in perversen Situation wie damals beim Verhör könnten Gefühle entstehen. Das Buch hätten sie geschrieben, um sich darauf zu besinnen, was sie erlebt und wie sie es verkraftet haben. Sie, das Opfer, sollte frei reden. Er, der Täter, Ängste abbauen.
Uwe Karlstedt räumt ein, sich ohne seine Frau seiner Vergangenheit "sicher nicht in dieser Intensität" zu stellen. Wieder ist da dieses laute Einatmen. "Das geht ans Eingemachte", sagt er und spricht von der bitteren Erkenntnis, schwach gewesen und allein dafür verantwortlich zu sein. "Ich sage das nicht gern, aber es hat mit Feigheit zu tun." Regina Karlstedt schaut ihn an. "Wer stellt sich schon die Frage nach der eigenen Unzulänglichkeit?", fragt er und legt die Hände ineinander. "In menschlich moralischer Hinsicht fühle ich mich natürlich schuldig. Und in dem, wie ich funktioniert habe, fühle ich mich verantwortlich." Wieder zieht er hörbar den Atem ein. "Es ist kein gutes Gefühl", sagt der 52-Jährige mit leiser Stimme. "Es ist ein Scheißgefühl."
Es war Regina Karlstedt, die nach der Wende den Kontakt zu ihrem Vernehmer gesucht hat. "Es war ein elementares Bedürfnis." Sie habe wissen wollen, ob die Gefühle, die sie glaubte, von ihm zu empfangen, Teil der Stasitaktik waren oder echt. Mitte der 90er-Jahre beantragt sie Akteneinsicht. 1997 hat sie seinen Namen und seine Telefonnummer. Sie ist damals 47 Jahre alt, der Mann aus dem Westen, mit dem sie in zweiter Ehe verheiratet ist, hilft ihr bei der Suche. In dieser Zeit führt sie als freie Mitarbeiterin Besucher durch die mittlerweile zur Gedenkstätte umgewidmeten Stasi-Untersuchungshaftanstalt. Sie tut es aus dem Bedürfnis heraus, das System verstehen zu wollen.
Als damals bei Uwe Karlstedt das Telefon klingelt, sitzt er mit seiner Frau und den zwei Kindern vor dem Fernseher bei einem allabendlichen Ritual: Sie schauen die Seifenoper "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Sie sind an den Stadtrand gezogen, weg aus der Plattenbauwohnung in Lichtenberg, weg von der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit direkt gegenüber. Uwe Karlstedt hat kurz nach dem Mauerfall Arbeit gefunden, bei der Mitropa-Verwaltung. Anfang der 90er-Jahre hatte er ein paar Mal Anfälle bekommen, hatte hyperventiliert, war auf dem Alexanderplatz einfach umgefallen. Er ging zu einer Psychologin, wollte wissen, was mit ihm los ist. Dabei wusste er es ja. Er nahm Beruhigungstabletten, machte autogenes Training. 1995 waren die Anfälle verschwunden.
Zwei Jahre später platzt in seine angeblich heile Welt diese Stimme aus der Vergangenheit. Uwe Karlstedt verleugnet sich und legt auf. Seiner Frau sagt er, am Telefon sei eine ehemalige Beschuldigte gewesen, deren Ermittlungsverfahren er bearbeitet hat. Vergeblich versucht er, ihre Telefonnummer herauszubekommen.
Wieder ist es die ehemals Verurteilte, die sich bei ihm meldet. Vier Tage später kommt ein Brief von ihr. Sie schreibt, dass sie es ihm nicht übel nimmt, dass er aufgelegt hat. Sie teilt ihm die Fakten zu ihrer Inhaftierung mit, erzählt ihm von dem Zahlencode, betont, dass ihr Anliegen rein privater Natur sei. "Ich würde niemals auch nur einen Zipfel davon irgendjemandem zur sogenannten wissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zur Verfügung stellen", schreibt sie, und dass sie Führungen "in der Gehrenseestraße" macht. Die Wörter Untersuchungshaftanstalt oder Gedenkstätte verwendet sie nicht. Sie verbleibt "mit tatsächlich freundlichen Grüßen".
Am nächsten Tag ruft Uwe Karlstedt sie an. Sie verabreden sich. Nach einer Führung in der Gedenkstätte treffen sie sich in einer Kneipe in der Nähe. Sie umarmen sich.
"Ich spürte eine innerliche Stille, eine Ruhe", sagt er. "Das passiert ja nicht oft im Leben." Wieder atmet er laut hörbar ein. Sie sagt: "Wir haben uns versprochen, uns nicht mehr aus den Augen zu verlieren". Ein Jahr später ziehen sie zusammen und reichen jeweils die Scheidung ein.
Die Karlstedts führen heute ein Leben als Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. Er ist vor einigen Jahren mit einer Abfindung bei der Mitropa ausgeschieden und seitdem arbeitslos. Sie hörte 1999 auf, in der Gedenkstätte zu arbeiten. Das Buchhonorar habe gerade zur Schuldentilgung gereicht, sagt Regina Karlstedt, und für ein paar Semester der Neueren und Neuesten Geschichte. An den Filmrechten, betont sie, verdienten sie nichts, die lägen beim Verlag.
Der Leiter der Berliner Stasi-Gedenkstätte, Hubertus Knabe, betrachtet die Beziehung von Regina und Uwe Karlstedt mit großer Skepsis. Er hat den Intendanten des MDR von "der erheblichen Kritik von Opferverbänden" an der Verfilmung unterrichtet und dass er große Zweifel am Wahrheitsgehalt habe. "Es wird der Eindruck erzeugt, die Untersuchungshaftanstalt sei ein Eheanbahnungsinstitut gewesen und nicht ein Ort zur Erpressung von Aussagen", sagt Hubertus Knabe. Findet er die Geschichte unglaubwürdig, weil sie so untypisch ist? Knabe verneint. "Weil es keine Belege gibt." Er spricht von "einer besonderen Form der Verarbeitung einer jeweils eigenen Geschichte". Verhöre und Erniedrigungen könnten in eine Identifikation mit dem Täter umschlagen, der wiederum nach Entlastung suche. Dem ehemaligen Vernehmer Karlstedt hält er immerhin zugute, "einer der ganz wenigen zu sein, die vergleichsweise offen über ihre frühere Arbeit sprechen". Deshalb sei er als Zeitzeuge "natürlich interessant". Die Gedenkstätte beschränkt sich aber darauf, seinen Namen weiterzugeben, wenn es Anfragen nach einem reuigen Täter gibt.
Regina und Uwe Karlstedt rücken noch näher auf dem Sofa zusammen. Sie empfinden es als grotesk, dass Hubertus Knabe protokollierte Belege verlangt. "Hätte es solche Belege gegeben, wäre Uwe wohl kaum weiter Vernehmer geblieben", sagt Frau Karlstedt. "Und Regina wäre auch nicht freigekauft worden", sagt er. "Unanständig" finden sie es, dass Knabe den ehemaligen Stasihauptmann als Zeitzeugen vermittelt, aber die Zusammenhänge, die zu seiner jetzigen Haltung geführt haben, unwahr nennt.
Regina und Uwe Karlstedt wehren sich gegen den Eindruck, eine Täter-Opfer-Beziehung zu führen. Sie nennen sie eine Feind-Verräter-Beziehung. Sie, der Feind des Sozialismus, er der Verräter, der sich in den Feind verliebt. Aber auch sie wird zum Verräter, weil sie sich in den Verräter verliebt, der ihr Feind ist. Die Geschichte von Regina und Uwe Karlstedt ist keine kitschige Liebesgeschichte. Sie ist äußerst kompliziert.
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