Weit weg von Neukölln, wo es kein Internet gibt : Liebe, Likör und der Feenstaub der Arbeit
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN
Freitagabend, wieder so eine Mottoparty, von der ich das Motto nicht mitbekommen hab. Man kann es an den Kostümen auch echt nicht ablesen. Die meisten Leute haben entweder etwas Hässliches an, mit Neonfarben, oder sehr wenig. Fast alle tragen Sonnenbrillen. Vielleicht gibt es auch kein Motto und ich hab bloß den Trend nicht kapiert, kann auch sein.
Es ist sehr heiß in der ganzen Wohnung. Fränzi sucht etwas, womit sie sich Luft zufächern kann. Sie probiert es mit einer Zeitschrift, aber die ist zu lapprig. Ich sage, nee, es muss klein und steif sein. Sie lacht. Klein und steif, haha. Wir machen ein paar dreckige Witze und finden dann einen Sixpackkarton, das geht gut. Fränzi fragt, ob wir immer noch diese Dreiergeschichte laufen haben. Nee, sag ich, jetzt haben wir ne Vierergeschichte. Sie sagt, sie will irgendwann auch mal eine offene Beziehung, aber eine sehr lockere. Alle haben ihr erzählt, wie toll das ist, jetzt will sie auch. Ich sage, ja, das ist das Beste, was man machen kann.
Später gehen wir in eine Kneipe, Name hab ich vergessen, vielleicht hat die gar keinen Namen. Ich will Likör trinken. Es gibt auf der Karte unter „Likör“ nur so was wie Amaretto und Baileys, das meine ich aber nicht. Ich frage den Barmann, ob es nicht was mit Kirsche, Pflaume, Quitte, Marille, irgendwie so was, gibt. Nee, sagt er, leider, das wird nicht nachgefragt. Hallo? Mann, Leute, Likör! Ist das nicht Weltkulturerbe oder so? Heißt es bei Wilhelm Busch „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“, oder heißt es „Wer Sorgen hat, hat nur Becks Gold?“ Im Tante Horst haben sie Likör, mit Johannisbeere, Zitrone und so, das heißt ja auch im Untertitel „Likörchenkollektiv“, aber da sind wir gerade nicht. Ich bestelle einen Wodka und motze noch ein bisschen, dann ist wieder gut. Irgendwann gehen wir nach Hause, es nieselt und Stefan singt etwas von Bob Dylan.
Am Samstag leihen wir uns das kleine Auto von unserem Nachbar Norman, um in die Landkommune zu fahren: ein altes Gutshaus in der Prignitz, das wir im Sommer mit Freunden gekauft haben. Da sind wir jetzt immer am Wochenende, renovieren und chillen, machen Musik und Bratäpfel und Liebe. Also einfach alles, was man so machen kann. Nachmittags sitze ich unten neben dem Kachelofen und lese ein Buch, das ich rezensieren soll. Es geht um Neukölln. Das wirkt irgendwie sehr weit weg gerade. Okay, 140 Kilometer ungefähr, aber auch gefühlt sehr weit. Hier, wo es keinen Handyempfang und kein Internet gibt, wo wir nur im Erdgeschoss Strom haben und abends überall Kerzen aufstellen, wo morgens immer ganz dicker Nebel über unserer Wiese hängt, wo die Wiesel über die Terrasse huschen und wo ansonsten alles irgendwie ruhig und entspannt ist. Neukölln, mein liebes, liebes Neukölln, ein bisschen bist du natürlich auch immer in mir drin. Wenn man in Rixdorf aufgewachsen ist, geht das nicht mehr wegzumachen, das bleibt.
Stefan kommt rein. „Du bist ja voll dreckig“, sage ich zu ihm. Sein eigentlich schwarzer Kapuzenpulli ist mit einer hellgrauen Dreckschicht überzogen, denn er hat mit Hannes, Aurélie und Judith oben eine Wand weggehauen. „Das ist der Feenstaub der Arbeit“, sagt Stefan. „Aber ich kann das auch wegmachen“, und zieht sich einen dicken Wollpullover über den dreckigen Pulli. „Wieder sauber. Ist eh zu kalt jetzt.“
Es ist wirklich arschkalt. Auf den Fluren und in der Küche herrschen Kühlschranktemperaturen. Wenn man ausatmet oder spricht, gefriert der Atem. Dann bemerkt Judith, dass ich in der Eingangshalle ein rotes Herz an die Wand gesprayt habe, daneben steht „Liebe!“, ganz groß.
Sie sagt, vielleicht müssen wir da nen Teppich drüberhängen, wenn nächstes Wochenende die Nachbarn zum Adventskaffee kommen. „Die denken doch sonst, wir sind total durchgedrehte Hippies.“ Ja, sage ich, ist ja nicht so ganz falsch.