Libanesischer Baladi-Tänzer: Sie lieben seine Beine
Alexandre Paulikevitch dekonstruiert den traditionell weiblichen Baladi. Auch das westliche Publikum ist begeistert – und fetischisiert ihn.
Nun fragt die deutsche Journalistin für ein Porträt an und will sehen, wie er seine Hüften kreisen und sein lockiges Haar fallen lässt. Schließlich dreht sich der Artikel um seine Kunst. Paulikevitch zögert. „Wir treffen uns und entscheiden dann über den Tanz-Part, o. k.?“, antwortet er schließlich.
Alexandre Paulikevitch, 1982 in Beirut geboren, hat in Paris zunächst Jura, dann Theater und Tanz studiert und lebt seit 2006 wieder in Beirut. Hier tritt er auf und unterrichtet in einem Tanzstudio den Baladi. In seiner Performance „Tajwal“ lief er 2011 zu Beginn nackt auf der Bühne, um seinen männlichen Körper zu präsentieren, dann tanzte er den traditionell mit Frauen assoziierten Tanz.
Protesttanz auf Demos
Er ist LGBTQ+-Aktivist, geht mit dem Schild „Tanz ist die Lösung“ zu Demos, choreografierte für die Frauenrechtsorganisation Kafa einen Protesttanz. Im August tanzte er für den libanesischen Sender Al Jadeed live. Vice fragt an, französische, schwedische Medien. Aber man kann nicht sagen, ob Paulikevitch es genießt oder nur genervt ist von den immer gleichen Fragen.
Er wählt das Chase, ein steriles Gourmet-Café, puristische braune Stühle und ein Limonadenpreis, den das deutsche Finanzamt sicher nicht als Spese durchgehen ließe. Seine lockigen Haare sind fest zum Dutt gebunden, schwarzes T-Shirt zu kurzer Hose und Turnschuhen. Bevor er Informationen gibt, möchte er Informationen haben.
Alexandre Paulikevitch
„Was machst du? Warum bist du in Beirut?“, fragt er. Das Aufnahmegerät läuft noch nicht, da erzählt er schon. Paulikevitch schaut eindringlich, seine mit Kajal angemalten Augen blinzeln kaum. Er beschleunigt seine Wörter, findet seinen Rhythmus. „Ich arbeite nicht an modernem Tanz oder Tanztheater im Pina-Bausch-Stil – es ist BALADI!“ ruft er aus. „Und schon gar nicht Bauchtanz oder, pfff, orientalischer Tanz.“
Orientalistischer Blick
Er richtet sich auf. „Sorry, ich muss mich mal dehnen“, sagt er, zwischen den Tischen beugt er sich nach vorne, legt die Hände auf den Boden, streckt die Beine durch. Dann setzt er sich wieder, schaut eindringlich. „Wo war ich? Ah! Ich bekomme diesen orientalistischen Blick. Warum ist Baladi der einzige Tanz, der nicht als Kunst wahrgenommen wird? Der Tanz wird nur in einer sehr vulgären Form gesehen, durch Titten, als Unterhaltung für Männer, fetischisiert durch europäische Männer.“
Er besteht darauf, Baladitänzer zu sein. „Der Tanz ist stigmatisiert. Niemand schert sich um ihn oder nimmt ihn ernst.“ Das möchte er ändern. „Ich will stören. Baladi wird als Unterhaltung gesehen. Ich werde dich nicht unterhalten! Das ist mein Ansatz: Weine, sei wütend, dann starte die Revolution!“
Seine Revolution hat etwas über 25.000 Klicks auf YouTube und heißt Tajwal. Zunächst sind nur seine glatten Beine in blauen High Heels zu sehen, dann füllt Alexandres knallroter Chiffronrock den YouTube-Rahmen. Zu dumpfen Schlägen dreht er sich über die Bühne, formt Wellen mit seinem Bauch zu Störgeräuschen wie Hallen und Rauschen. Erst dann ertönen die Baladi-typischen Percussions, die den Takt vor geben.
„Ich wollte diesen Tanz dekonstruieren. Ich tanze zu Straßengeräuschen oder einer Fatwa. Keine arabische Musik.“ Er drückt ein „fttttt“ aus seinem Mund, lässt seine Hand abfällig fallen. „Ich tanze, wie ich will – später entscheide ich über die Musik. Ich sage meiner Soundproduzentin: Ich möchte Ketten, klirrendes Glas, pow, pow, pow, Autos, gib mir was Düsteres, Dunkles. Ich kontrolliere alles.“ Während Paulikevitch redet, gestikuliert er, verdreht seine Finger.
Liste der Beleidigungen
In Tajwal kreist sein Oberkörper in einem engen, hautfarbenen Gewand, dann sein Kopf, während die Arme hinter dem Rücken verschränkt sind. Ein Presslufthammer ertönt.
„Das Stück habe ich gemacht, nachdem ich mein Auto verkauft habe“, erklärt Paulikevitch . „Ich lief durch die Stadt – und Leute haben mich beleidigt.“ Er schrieb jede Beleidigung auf, nach anderthalb Jahren formten sie eine lange Liste. „Die habe ich dann in die Choreografie eingearbeitet. Und es wird der Gesellschaft zurückgeworfen: Die Beleidigung, der verstümmelte Körper, wie Menschen deinen Körper beeinflussen, wie beschränkt der Körper ist, wie gewalttätig die Gesellschaft mit dem Körper umgeht. “
Hat die Bühne, seine Auseinandersetzung mit Körpern und ihrer Wahrnehmung, einen Einfluss auf die Straße? „Natürlich! Die Öffentlichkeit geht gewalttätig, sexualisierend mit meinem Körper um – aber sie feiert ihn auch. Ich kann mir nicht mehr wünschen als die bezaubernden Reaktionen, die ich hier im Libanon bekomme.“ Er tanzte in der zweitgrößten Stadt Tripoli im Norden, im Gebirge, für den Exminister Michel Pharaon und in palästinensischen Camps.
„Jeder weiß, Alex ist nicht Bourgeois“, sagt er über sich, in der dritten Person. Also sind es nicht nur Eliten, die seinen politischen Aktionismus verstehen? „Nicht im Geringsten. Klar, es gibt schon die intellektuelle Elite, aber die ehrlichsten Reaktionen bekomme ich auf dem Land. Die Alten, 70-, 80-Jährigen sitzen und warten, dass ich tanze. Hopp, ich tanze und sie geben mir aufrichtige Bewunderung.“
Das bringe den größten Wandel. „So änderst du die Mentalität. In Tripoli habe ich in einem Café voller Männer getanzt. Und ich habe kein einziges negatives Wort gehört. Ich habe die Bude abgerissen!“ Paulikevitch streckt ein Bein aus und fährt mit den Fingern über die glatte Haut. „Sie lieben meine Beine.“
Nach 45 Minuten Gespräch verschwindet er auf der Toilette. Als er zurückkommt, dann endlich die magische Einladung: „Ich habe montags das Studio, da unterrichte ich. Kannst du da kommen? Ich tanze für dich, 10 Minuten, exklusiv aus meinem Stück.“
Im Tanzstudio begrüßt sein gelbes T-Shirt mit dem Aufdruck „come on team“. Er geht aufrecht mit Hüftschwung und angewinkelten Armen durch den Raum, singt leicht zur Musik, um dann die Schülerinnen zu ermutigen: „Super, sehr gut.“ Er wählt einfache Musik für den Unterricht, Viervierteltakt, manchmal Musik aus seiner Kindheit. Gegen Ende der Stunde öffnet er seine Haare und lässt den Kopf kreisen, bevor er die Frauen verabschiedet.
Dann beginnt er zu tanzen.
Er atmet tief ein und aus, acht Sekunden, zieht sein Shirt aus. Sein gepiercter Bauch bewegt sich leicht, die Arme spannen sich an, dann die anderen Muskelpartien, das Gesicht wirkt angestrengt. Er sieht aus wie ein Bodybuilder, der auf einem Wettbewerb seine Posen präsentiert.
Zerstörung der Normen
Die Bewegung geht über in schwingende Arme, die Hüfte kreist eindringlicher, ausschweifender. Seine Mimik ändert sich, der Mund leicht geöffnet, lasziver Blick. Seine Ausstrahlung wandelt sich, bekommt etwas Erotisches. Es erinnert an stereotype maskuline und feminine Posen, die sich abwechseln, dann aber zerstört er die Zweiteilung: Sein Gesicht zuckt, dann wieder neigt er es zur Seite. Seine Atmung ist laut zu hören.
Während der 10 Minuten schaut sein Blick eindringlich, als fordere er eine intensive Reaktion auf seinen Tanz. Er tanzt gebeugt, mit kreisender Hüfte, schwingenden Armen, aufgerissenem Mund, verdrehten Augen, die Haare öffnen sich aus dem Dutt. Paulikevitch verlangsamt sich, bis er aufrecht steht.
Und dann endlich eine Antwort auf die Frage: Wieso hatte er sich anfangs dagegen gewehrt, für die deutsche Journalistin zu tanzen? „Ich tanze nicht für weiße Europäer, die mich fetischisieren“, erklärt Paulikevitch.
„Die westliche Werte bestätigt haben möchten und dann zur LGBTIQ-Community sagen: Wow, so was gibt es? Die mich wie den syrischen Balletttänzer behandeln, der in Palmyra tanzt. Den sie nur zu sich holen, um sagen zu können: Armer Junge, hier bist du frei, hier kannst du tanzen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland