Leipziger Buchpreis für Mathias Enard: Der Orient im Orient des Orients

Mathias Enard erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In seinem Roman „Kompass“ rehabilitiert er den Orientalismus.

Orientalische Architektur

Ist das noch der Orient? Oder nur orientalische Architektur, die den Orient persifliert? Foto: photocase/Daniel Van Grawel

„Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“, heißt es in „West-östlicher Divan“. Wenn dem alten Goethe schon vor zweihundert Jahren Orient und Okzident als untrennbar galten, was sollen wir sagen, in Zeiten, in denen Texte, Klänge, Rhythmen, Bilder in Sekundenschnelle um die Welt wandern? Wir könnten versuchen, uns die Weisheit der Liebhaber des Orients von einst zu Herzen zu nehmen.

Eine solche Rehabilitation des Orientalismus unternimmt Mathias Enard in seinem Roman „Kompass“, der 2015 in Frankreich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Holger Fock und Sabine Müller, die den Roman ins Deutsche übertragen haben, sind für den Preis der Leipziger Buchmesse für Übersetzung nominiert. Und ebendort wird Enard selbst der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen werden.

Franz Ritter heißt der Ich-Erzähler von „Kompass“. In Wien lebt der Musikwissenschaftler, der die Migration von Klängen, Rhythmen, Spielweisen von Ost nach West und wieder zurück untersucht. Etwa den Einfluss türkischer Militärmusik auf Mozart, der wiederum die Marschmusik inspirierte, die Giuseppe Donizetti für die Osmanen komponierte. Aufgrund einer nicht näher spezifizierten medizinischen Diagnose muss sich Franz Ritter die bange Frage stellen, ob sich sein Leben womöglich bald zu Ende neigt. Vielleicht leidet er aber auch nur an einer strukturellen Depression.

Franz Ritter kann jedenfalls nicht schlafen, eine ganze lange Nacht. In deren Verlauf vergegenwärtigt sich der Erzähler sein Leben und seine Forschungsgegenstände, was es seinem Autor Enard ermöglicht, Exkursionen in Länder wie Syrien, Irak und Iran zu unternehmen und en passant Anekdote an Anekdote aneinanderzureihen, die sich als kleine Geschichte des Orientalismus lesen lässt.

„Zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke“

Der Orientalismus ist Enard nicht bloß Thema. Zwar lässt Enard seinen fast klischeehaft schüchternen, weltfremden Protagonisten dieses Thema mal brav und neurotisch detailversessen abarbeiten, mal in kühnen Wendungen essayistisch umkreisen. Mehr und mehr zeigt sich beim Lesen aber, dass Enard Humor hat.

Die Geschichte des Franz Ritter selbst folgt ironisch den Projektionslinien des orientalistischen Begehrens: Denn das Denken dieses im Morgenmantel grübelnden weißen österreichischen männlichen Orientalisten kreist um die abwesende, reisende, Abenteuer in der Ferne erlebende geliebte Frau, die aus einer jüdischen Pariser Familie stammt. Nur eine Nacht verbrachte er mit ihr, bevor das Schicksal, der plötzliche Tod ihres Bruders, sie wieder auseinanderriss.

Ein Mann, Mathias Enard

Mathias Enard Foto: dpa

Vom Begehren nach Sarah, der fernen Frau, die er liebt und begehrt, wird der innere Monolog angetrieben, von dem Ritter nicht lassen kann, als hinge sein Leben daran. Franz Ritter erzählt um sein Leben, ganz so wie Scheherezade aus Tausendundeiner Nacht. Was Schehere­zade der persische König ist, der sie jeden Morgen töten könnte, ist Ritter die mysteriöse Krankheit, seine Krise.

„Wir sind zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke, ohne etwas draußen zu sehen, allein, ohne uns je zu verstehen“, so beginnt der nächtliche Monolog des Franz Ritter. Alles, was wir vom anderen zu wissen glauben, sind Projektionen, die uns nur etwas über uns selbst erzählen. Den anderen zu begehren ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Grenzen des Selbst zu überschreiten, uns im anderen wiederzufinden. Und so lässt sich auch der Orientalismus als kulturelles Begehren begreifen, die eigene Beschränktheit hinter sich zu lassen.

Reue und Nostalgie

Das hat die Kritik des Orientalismus, dessen Erfinder laut Franz Ritter Napoleon war („im Schlepptau seiner Armee kommt die Wissenschaft nach Ägypten“), nie verstanden. Der Wunsch, sich die Gedichte, Erzählungen und Klänge des Morgenlands einzuverleiben, der das Abendland umtreibt, wurde als imperialistische Ideologie entlarvt, als Überbau des kolonialen Verbrechens denunziert.

In der Tat berichten uns die orientalistischen Erzählungen oft mehr über ihre Urheber als über den Orient. So zitiert Franz Ritter an einer Stelle vergnügt Heinrich Heine, der einen Orientalisten fragte: „Wie werden Sie es anstellen, um vom Orient zu sprechen, wenn Sie erst einmal dort gewesen sind?“ Franz Ritter zitiert weiter Pessoa, der seinen Álvaro de Campos sagen lässt: „Und so such ich im Opium / Den Orient im Orient des Orients.“ Der Orient, das ist der Ort, von dem die eigenen Projektionen zurückgespiegelt werden.

Mathias Enard: „Kompass“. A. d. Französischen von H. Fock und S. Müller. Hanser, Berlin 2016, 432 S., 25 Euro

Doch die Kritik des Orientalismus krankt an ebenjenem Denken in scharfen Kontrasten, das sie dekonstruieren möchte, sie ist selbst ein dichotomischer Apparat. Kultur ist eben nicht nur etwas, das auf aggressive Weise mit Nation und Staat identifiziert wird und dazu dient, „uns“ von den „anderen“ zu trennen, wie Edward Said schrieb, sondern gerade in der orientalistischen Moderne vom Begehren nach dem anderen getrieben wird. Dem Exotismus geht es um Selbstbastardisierung, denkt Franz Ritter.

Zu Edward Said habe er keine Meinung, meint Franz. Sarah aber hat später mehr zu sagen: „Die Frage sei nicht, ob Said mit seiner Sicht auf den Orientalismus recht habe oder nicht; das Problem sei die Bruchlinie zwischen einem Okzident, der beherrsche, und einem Orient, der beherrscht werde.“ Diese Bruchlinie trage selbst dazu bei, dass sich das Szenario der Herrschaft vollende, gegen das Said ankämpfen wollte, argumentiert Sarah. Man müsse „jenseits der dämlichen Reue der einen und der kolonialen Nostalgie der anderen eine neue Vision entwickeln, die den anderen in sich einschließe“. Für Sätze wie diesen hat Mathias Enard den Leipziger Preis für Verständigung verdient.

Die Heilung von der Angst

„Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“, Goethe hat nichts anderes gesagt, womit er als klüger erscheint als die postkolonialistischen Denker des 20. Jahrhunderts, als die zeitgenössischen Identitätsfetischisten von links wie rechts.

Franz Ritter weiß, dass die Orientalisten und Archäologen die imperialen Armeen, Diplomaten, Händler und Missionare begleitet haben. Aber er sieht auch die bärtigen Mörder des „Islamischen Staats“, das immer schon brutale Regime des Assad-Clans in Syrien und die ungebildeten Opportunisten an den Universitäten der Islamischen Republik, die eine ganze Generation von jungen Intellektuellen ins Exil getrieben, eingesperrt, gefoltert und ermordet hat. Als ein „Hoheitsgebiet des Schmerzes und des Todes“ erscheint ihm der Iran.

Doch der Orient verspricht seinen Besuchern weiterhin „Heilung von einer geheimnisvollen Krankheit, einer tiefliegenden Angst“. Eben das ist Sarahs grundlegende These, die auf der bitteren Erkenntnis der Orientreisenden Annemarie Schwarzenbach beruht: „Im Grund sind wir immer allein.“

Sarah und Franz lernen sich im steiermärkischen Hainfeld kennen, bei einem Kolloquium auf dem Anwesen des Joseph von Hammer-Purgstall. Dieser österreichische Orientalist übersetzte „Tausendundeine Nacht“ und auch den „Diwan“ des großen persischen Dichters des 14. Jahrhunderts, Hafis, der Goethe zu seinem eigenen „Divan“ inspirierte: „Und mag die ganze Welt versinken, / Hafis mit dir, mit dir allein / Will ich wetteifern! Lust und Pein / Sei uns, den Zwillingen, gemein!“

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