Lesetest ist nur punktueller Erfolg: "Falsche Auslese"
Pädagogikprofessorin Renate Valtin sieht nach den Erfolgen der zweiten Iglu-Studie trotzdem noch erheblichen Handlungsbedarf. Die hierarchisch gegliederte Schulstruktur findet sie fatal.
taz: Frau Valtin, Iglu hat zum zweiten Mal Zehnjährige aufs Lesen getestet. Was ist das bedeutsamste Ergebnis?
Renate Valtin: Dass die Kinder eine noch größere Motivation und Lesefreude bekunden und die Verbesserungen vor allem auf das Konto der Jungen gehen, die wir ja schon als das "benachteiligte" Geschlecht betrachteten.
Bei der letzten Iglu-Studie 2001 war herausgekommen, dass Lehrer ihre Empfehlungen für den Übertritt in die Sekundarschulen nach sozialer Herkunft fällen. Ist das immer noch so?
Die Lage hat sich sogar noch verschlechtert: Um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, müssen Kinder von Arbeitern noch bessere Leseleistungen erbringen als bei Iglu 2001. Kinder der Oberschicht können sich jedoch noch schlechtere Leseleistungen erlauben als vor fünf Jahren.
Was sagt die neue Studie über das Schulsystem aus?
Sie belegt erneut seine Ungerechtigkeit. In unserem weltweit einmaligen Schulsystem entscheiden sich die Bildungs- und Lebenschancen mit Eintritt in das Gymnasium. Kinder aus bildungsfernen Milieus sind dabei dreifach benachteiligt: Sie haben ungünstige Lernvoraussetzungen, sie werden - auch bei vergleichbarer Leseleistung und kognitiver Fähigkeit - seltener ans Gymnasium empfohlen, und ihre Eltern begehren seltener gegen die Empfehlung der Schule auf, als dies Akademikereltern tun.
Wie hat sich die Schule seit Iglu und Pisa entwickelt?
In den Grundschule gibt es punktuelle Verbesserungen: Die Klassengröße hat sich etwas vermindert, die Anzahl der Bibliotheken und Computer in der Schule hat sich erhöht. Nach wie vor fehlen aber Fördermöglichkeiten und Fachpersonal für Kinder mit Schwierigkeiten, ebenso Ganztagsschulen in ausreichender Zahl.
Wie kommt es, dass die Zehnjährigen im internationalen Vergleich gute Kompetenzwerte haben - die 15-Jährigen aber nur mäßige?
Meiner Meinung nach liegt das an einer fatalen Kombination: Wir haben eine hierarchisch gegliederte Schulstruktur mit früher und ungerechter Aufteilung und mangelhafter Durchlässigkeit nach oben. Und wir haben eine auf Auslese gerichtete Lehrermentalität, mit geringer Unterstützung von Lernschwachen und häufiger Nutzung der Möglichkeit zum Abschieben "ungeeigneter" Jugendlicher durch Sitzenbleiben und Abschulen.
Was passiert aus Ihrer Sicht in der Sekundarstufe?
Fragen Sie lieber, was nicht passiert. Aufgrund der "falschen Auslese" erhalten Jugendliche nicht die gezielte Unterstützung, die sie brauchen. Lesen wird dort nicht als fächerübergreifende Kompetenz geübt.
INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER
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