Leiter der Sarajevo Film Factory: „Wir zeigen die Leute auf der Straße“
Er hat keine Lust auf glatte Coverbilder: Der Regisseur Béla Tarr über Filmfestivals im Bosnienkrieg, soziale Sensibilität und seine Arbeit als Lehrender.
sonntaz: Herr Tarr, Sie haben nach Ihrem letzten Film, „Das Turiner Pferd“, vorläufig wahrgemacht, keine weiteren Filme mehr zu drehen. Sie sind Leiter der Film Factory in Sarajevo. Was ist Ihre Beziehung zu dieser Stadt?
Béla Tarr: Ich lebe inzwischen hier. Das war eine der Bedingungen. Glauben Sie mir, die Arbeit als Filmschuldirektor ist ein Fulltimejob.
Wie kam Ihr erster Kontakt zustande?
Es muss bald nach dem Balkankrieg 1996 gewesen sein, als das Filmfestival bereits existierte. Man lud mich in die Jury ein. Susan Sonntag, die damals viel für Sarajevo tat, rief mich an und sagte, dass ich herkommen müsse. Damals war das Festival anders, viel kleiner ohne roten Teppich, und für die Vorführungen gab es nur ein Kino.
Die Stadt war vollkommen zerstört. Für mich als Filmregisseur war das alles sehr interessant. Danach kam ich immer wieder zurück. Es war mir wichtig. Wenn man mich braucht, komme ich gern.
Das Festival wurde noch während des Krieges im Jahr 1995 gegründet. Hat Sarajevo für Sie immer noch so eine starke symbolische Energie wie zu Anfang?
Man spürte, dass die Leute das Kino liebten, weil sie wieder normal leben wollten. Ich habe die Belagerung nicht erlebt, ich stelle sie mir vor, aber es war einfach wichtig zu zeigen, dass auch im Krieg das Leben weitergeht. Die Häuser waren voller Heckenschützen von beiden Seiten. Es muss die Hölle gewesen sein, aber die Leute liebten das Leben und kamen zu den provisorischen Vorführungen.
Sie waren in diesem Jahr Präsident der Wettbewerbsjury. Das Programm zeigte ausschließlich Filme aus Südosteuropa, der Mittelmeer- und der Schwarzmeer-Region. Sehen Sie darin ein politisches Statement?
Der Regisseur: geboren 1955 in Pécs, gilt als einer der bedeutendsten ungarischen Filmregisseure der Gegenwart. Seine Filme, darunter „Verdammnis“ (1988), „Satanstango“ (1994), „Die Werckmeisterschen Harmonien“ (2000) und zuletzt „Das Turiner Pferd“ (2011), für den er den Großen Preis der Jury bei der Berlinale 2011 erhielt, sind alle Exerzitien von langer Dauer und zugleich Beschwörungen intensiver kinematografischer Momente.
Die Akademie: Nach 30 Jahren der Selbstfindung seines minimalistischen Stils schloss Béla Tarr 2011 mit dem Filmemachen ab und gründete die Film Factory in Sarajevo, für dessen Filmfestival er sich früh engagierte. In diesem Jahr war er dort Präsident der Jury.
Ich würde es so ausdrücken: Die Auswahl spricht für soziale Sensibilität. Ich würde die Filme nicht als politisch bezeichnen. Ich habe das Gefühl, dass sie das Leben der Leute in diesen Regionen zum Ausdruck bringen. Je mehr ich darüber nachdenke: Soziale Sensibilität ist für mich das Schlüsselwort.
Sie laden seit 2013 Bewerber aus der ganzen Welt zum Studium in der Film Factory ein. War die Gründung Ihre Initiative?
2012 hatte ich Gespräche mit der Leitung der neu gegründeten privaten Universität School of Science and Technology. Sie unterstützten die Idee, Filmstudiengänge in ihr Curriculum aufzunehmen. Die Studiengebühr beträgt 5.000 Euro pro Jahr. Die Universität wirbt weitere Mittel ein. Vom bosnischen Staat war keine Finanzierung zu erwarten.
Auch die Akademie für darstellende Künste, wo renommierte Filmemacher wie Jasmila Zbani, Boris Tanovi und Aida Begovich studiert haben, verfügt nur über schwache Mittel. Kultur hat in diesem Land keine Reputation. Schauen sie sich an, was mit dem Nationalmuseum, der Nationalgalerie und dem Historischen Museum in Sarajevo passiert ist: Seit 2011 sind sie geschlossen, weil sich der zweigeteilte Staat Bosnien und Herzegowina nicht auf ein übergreifendes staatliches Gesamtbudget für den Unterhalt einigen kann. Traurig, hässlich und chaotisch ist die Lage.
Das Dayton-Friedensabkommen hat die Konfrontation der verfeindeten Nationalitäten in gewisser Weise festgefroren, anstatt die Probleme zu lösen. Das Land ist in die Teile Republika Srbska sowie in Bosnien und Herzegowina geteilt und jedes davon wieder in mehrere Kantone, die alle Regierungen unterhalten und allein dafür das Steueraufkommen verbrauchen. Politik zu gestalten geht hier im Chaos unter. Für mich sind die unterschiedlichen Interessen der vielen Regierungen schwer zu durchschauen. Die private Universität, der wir angehören, versucht, die komplizierte Situation anders zu managen.
Warum sprechen Sie von einer Factory? Sind Sie der Meister, der sich mit Schülern umgibt? Übergehen Sie die verschulten akademischen Regeln einer Universität?
Unser Curriculum stellt zum Teil akademische Anforderungen, der wahlweise einem Master- und einem Promotionsstudiengang entspricht. Aber im Großen und Ganzen ist die Film Factory ein Laboratorium, ein Arbeitsort. Denken Sie an das Bauhaus! Erfahrene Künstler arbeiteten da mit Schülern zusammen, und gemeinsam schufen sie etwas Neues.
Das ist auch unser Ziel. Wir bieten einen Ort, an dem junge Filmemacher erfahrene bekannte Filmemacher kennenlernen und ihre Ideen mit ihnen austauschen können. Jeder wird hier in seiner Besonderheit anerkannt, jeder bekommt seine Chance, vier kürzere Filme und einen langen Abschlussfilm zu drehen.
Woran messen Sie Talent?
Das ist einfach. Man bewirbt sich mit Filmen, das ist der einzige Weg, Talent zu beurteilen. Ich schaue sie mir an und sage okay, der ist gut, oder die Fehler eines Bewerbers machen ihn für mich interessant. Ein Jahr nach der Gründung waren wir in diesem Jahr schon in der bosnischen Sektion des Festivals mit einem Kurzfilmprogramm vertreten, das wir „Lost in Bosnia“ genannt haben.
Mein Rat war einfach: Du musst ehrlich sein und erzählen, was du fühlst, wie du bist und was du über die Welt denkst. Ich möchte die Studierenden nicht zwingen, „korrekte“ Filme zu machen und konventionellen Regeln zu folgen. Wir lassen sie frei laufen, denn nur das verschafft die Energie, mutiger zu werden und Neues zu finden. Unpolitisch ist das nicht. Wenn du einen Film machst, richtest du die Kamera auf einen bestimmten Punkt. Die Frage ist, was du zeigen willst und was nicht.
Bis diese Kids das wirkliche Leben und die Probleme in den Blick nehmen und zu verstehen versuchen, wie Gesellschaft funktioniert, was ihre Position ist und was sie zu tun haben, bin ich nicht streng mit ihnen. Ich finde, auf eine Weise ist es auch eine politische Entscheidung, Leute vom Cover von Vanity Fair zu zeigen. Aber wir zeigen die Leute auf der Straße.
Wie schaffen Sie es, eine Sensibilität für das Kino zu vermitteln?
Mein Schlüsselwort „soziale Sensibilität“ ist mindestens ebenso wichtig. Sie muss ohne Gängelung mit der Sensibilität für die Kinematographie zusammenfinden. Ich gebe keinen direkten Input. Sie müssen es in sich selbst finden. Meine Aufgabe ist, die richtigen Leute zu finden, die sie inspirieren und weiterentwickeln.
Wir breiten einen Schutzschirm aus, der die Studierenden ermutigen soll, Grenzen zu überschreiten, durchs Feuer zu gehen, was auch immer. Jeder trägt in seinen Genen seine kulturellen Wurzeln mit sich. Es ist interessant zu beobachten, wie sie sich finden.
Sie schreiben auf der Website der Film Factory von der Entwertung der Bilder.
Schauen Sie die Grafik am Eingang der Universität an. Sie soll uns sagen, dass hier Meetings und Partys für Festivalbesucher stattfinden, aber man sieht nur Markenwerbung. Wir sind immer häufiger von solch hässlichen Bildern umgeben, die die Augen zerstören. Auf der anderen Seite gibt es unglaublich viele schöne Dinge, die man mit der Kamera finden muss.
Ich habe auch genug von all den Kriegsbildern. Bosnien leidet unter den Folgen seiner ethnischen Konflikte, aber wir können als ortsfremde Filmemacher mit unseren Fantasien nachempfinden, wie die Kriege des letzten Jahrhunderts waren. Wir sollten uns an das Leben jetzt in diesem Moment halten. Was sich daraus entwickelt, kann ich nicht sagen. Ich muss optimistisch sein. Wenn ich es nicht wäre, hätte ich nichts verloren in Sarajevo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen