■ Legte man die Berliner Stadtentwicklung der Nachwendezeit und deren Protagonisten allesamt auf die Couch, würden Psychologen unschwer ein Verhaltensmuster erkennen, das fast automatisch zu handfesten Neurosen, Depressionen oder zu Phobien führt Von Uwe Rada: Verdrängung im vierten Stadium
Olympiade, Wolkenkratzer am Alex, mehr Büroräume als Hamburg, Frankfurt und München. Jetzt der Masterplan und die Vorstellung politischer Null-Toleranz. Wie hält Berlin es eigentlich mit der Wirklichkeit?
Höchst selten blickt aus dem sprichwörtlichen Provinzialismus der Berliner Politik einmal Weltläufigkeit hervor. Zuletzt schien im Juli 1993, also vor knapp fünf Jahren, ein solch ungewöhnliches Ereignis eingetreten zu sein. „Die Krise“, zitierte zwei Monate vor der Olympiaentscheidung in Monte Carlo der Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) den Schweizer Schriftsteller Max Frisch, „ist ein produktiver Zustand. Man muß ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Sollte Diepgen in jenem hellen Moment eine Vorahnung gehabt haben vom Berliner Debakel in Monte Carlo? Sollte er, unter Zuhilfenahme eines verstorbenen Schriftstellers, gar versucht haben, die Berliner Zukunft auch ohne Olympia zu denken, wo doch lange genug das Schicksal der gerade zur Hauptstadt vereinigten Teilstädte unmittelbar mit dem Zuschlag der Olympischen Spiele im Jahre 2.000 verknüpft worden war?
Nicht Eberhard Diepgen sollte auf diese Fragen antworten, sondern sein damaliger Ko-Regent, der ehemalige Daimler-Chef Edzard Reuter, dem der Berliner Senat zu Zeiten des postwendalen Metropolenfiebers die innerstädtischen Filetgrundstücke am Potsdamer Platz regelrecht hinterhergeworfen hatte. Ein Jahr nach Diepgens Ausflug ins Literarische war Reuter wieder auf Berliner Boden gelandet: Auf einer berlin-brandenburgischen Unternehmertagung sprach er von Berlin – wie gehabt – als dem „Keim einer Erfolgsgeschichte“. Die Positionierung Berlins am östlichen Rand der Europäischen Union und damit die unmittelbare Nähe zu den aufstrebenden Triade-Märkten erlaube es, so Reuter, „Berlin-Brandenburg in Vergleich zu setzen mit Metropolenregionen und global erfolgreichen Megazentren wie Dallas, das in der Reichweite zu Mexiko liegt, oder sogar zu Hongkong, an der Nahtstelle zur Volksrepublik China“.
Das wirtschaftliche Schicksal Hongkongs vorauszuahnen, konnte vom Sohn des legendären Nachkriegs-Regierenden Ernst Reuter (SPD) wohl nicht verlangt werden. Doch die Karten, aus denen die Berliner Zukunft gelesen werden konnten, lagen schon damals auf dem Tisch. Bei jener „Jahrhundertentscheidung“ im September 1993 in Monte Carlo hatte Berlin nur neun der 91 IOC-Stimmen bekommen. Deutlicher hätte die Kluft zwischen hybridem Selbstbild und nüchterner Außenwahrnehmung nicht sein können. Selbst Manchester hatte besser abgeschnitten. Damit nicht genug. Bereits zuvor hatte ein Expertengremium von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern den Berliner Senat gewarnt, einseitig auf die Metropolenkarte zu setzen. Wenn nicht schleunigst kleinere Brötchen gebacken werden, so lautete die unmißverständliche Warnung, drohe Berlin gar der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit eines ostdeutschen Regionalzentrums.
Von der Krise als produktivem Zustand konnte also keine Rede sein. Anstatt auf die eigenen Kräfte zu setzen – das endogene Potential der Stadt, wie es die Experten nannten –, steckte das politische Personal an der Spree weiterhin die Köpfe in den märkischen Sand und übte sich in der westberlinischen Variante des Honeckerschen Prinzips Hoffnung: Die Metropole in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Verdrängung nennt man in der Psychologie jene Technik der Vorwärtsverteidigung, bei der man sich im Namen einer glänzenden Zukunft gern auf eine glorreiche Vergangenheit beruft, die Augen vor der Gegenwart am liebsten verschließt und am Ende nur der Katzenjammer bleibt. In Berlin, der Hauptstadt der Verdrängung, hat man diese Technik inzwischen zur Serienreife entwickelt. Doch anhaltender Wirklichkeitsverlust und Wiederholungszwang, das wissen nicht nur die Psychologen, führen mit der Zeit zu handfesten Neurosen, Phopien, Angstzuständen, zwanghaften Handlungen und Depressionen.
Legte man die Akteure der Berliner Stadtentwicklung der Nachwendezeit allesamt auf die Couch, würden bereits bei ihrer Anamnese drei Stadien der Verdrängung offenkundig: Das erste Stadium ging vom Fall der Mauer bis ins Jahr der Olympiaentscheidung 1993. Es war, wenn man so will, eine Phase der Suche nach sich selbst, ausgelöst durch eine überraschende Wende, mit der eigentlich niemand gerechnet hatte. Welche Identität Berlin vor dem Fall der Mauer hatte, stand zuvor nie außer Zweifel. Berlin war Frontstadt, verlängerte Werkbank und alternatives Dorado im Westen. Berlin war Frontstadt, Industriestandort und alternatives Dorado im Osten. Plötzlich aber sollte die Stadt, in der man über Jahrzehnte die Zeit angehalten hatte, in die Echtzeit der globalen Standortkonkurrenz geworfen werden. Berlin sollte, je nach Gusto, europäische Dienstleistungsmetropole, Ost-West- Drehscheibe oder Olympiastadt werden oder besser: alles zusammen. Wie das vonstatten gehen sollte, war für die Große Verdrängungskoalition, die nach den Wahlen vom 2. Dezember 1990 die Regierungsgeschäfte übernahm, keine Frage: Wachstum – und damit Hilfe von außen, lautete die Devise. Die Rechnung war einfach. Ausgehend von einem prognostizierten Bevölkerungsanstieg von 60.000 zumeist hochqualifizierten Neuberlinern jährlich und damit einem Büroflächenbedarf von soundsoviel Quadratmetern pro Person und Arbeitsplatz sollte Berlin Frankfurt, München und Hamburg den Rang ablaufen und sich künftig mit Paris oder London messen dürfen.
Könnte man dieses erste Stadium der Verdrängung noch mit der Unerfahrenheit im Umgang mit einschneidenden Wendesituationen und einer allgemeinen Orientierungslosigkeit im Zusammenhang mit dem Vereinigungstaumel entschuldigen, so erfüllte das Festhalten am Wunschbild der Metropole im zweiten Stadium der Verdrängung nach 1993 das Verhaltensmuster eines Wiederholungszwangs. Munter wurde – wieder mittels einer Projektion, diesmal mit Hinweis auf den wirtschaftlichen Sogeffekt, den der Regierungsumzug mit sich bringen würde – an den Metropolen- und Wachstumsplanungen weitergebastelt. Vor lauter Kränen sah man die Stadt und ihre Bewohner nicht mehr, bis man am Ende entdeckte, daß nach dem Abbau der Kräne zumeist leerstehende Büroräume und ein veritables Haushaltsloch zurückblieben.
Dazu kam, daß sich die Stimmen derer mehrten, die vor allzu großer Hoffnung auf den Regierungsumzug warnten. Statt nun aber das Frischsche Diktum von der Krise als produktivem Zustand ernstzunehmen und den heilsamen Schock des Immobilien- und Wirtschaftscrashs als Zeichen für eine Umkehr zu deuten, trat man in der Hauptstadt der Verdrängung die Flucht nach vorne an. Das Ergebnis dieses dritten Stadiums ist eine Art urbanes Gleichgewicht des Schreckens. Es besteht zum einen aus dem (Master-)Plan, einer gigantischen „Urbanisierung“ der noch nicht bebauten Flächen der Innenstadt für eine „eigentumsfähige“ Stadtbürgerschicht, und zum anderen aus einer ordnungspolitischen Ausgrenzungs- und Säuberungsoffensive mit einem Ex-General, nunmehr als Innensenator auf der Kommandobrücke. Es scheint, als sei auch diesem dritten Stadium der Verdrängung keine allzulange Dauer mehr vergönnt. Offenkundiges Symptom für den Eintritt Berlins ins Endstadium der Verdrängung – der Neurose – sind die aufgeregten Übersprungshandlungen, mit denen die Akteure der Legoland-Urbanisierung deren offensichtliches Scheitern begleiten. Jüngstes Beispiel dafür ist die Debatte um das Subjekt dieser neuen Verstädterung, den „neuen Urbaniten“, jenes stadtbürgerliche Gestirn am Himmel der Berliner Metropolenträume, das nicht nur von Politikern, sondern auch von Publizisten wie dem Zeit-Korrespondenten Klaus Hartung wortreich als Alternative zum Berliner „Betroffenheitsmilieu“ herbeigeschreibelt wurde. Doch je mehr sich die selbsternannten Citoyens in klaren Winternächten mit ihren selbstgebauten Fernrohren auf die Suche am märkischen Firmament machten, desto klarer war ihnen geworden, daß die neue Schicht der Urbaniten bereits vor dem Eintritt in die märkische Atmosphäre verglüht ist oder aber – wo schon jetzt vorhanden – wahlweise in München, Düsseldorf oder Hamburg ihrem stadtbürgerlichen Vergnügen nachgeht. Aber was nicht sein kann, darf bekanntlich nicht sein. Kaum hatten Sozialwissenschaftler und Demographen die Hoffnung der Berliner Politik auf den „Stadtbürger mit Handy und Laptop“ als statistischen Unsinn entlarvt, hielt es den zuständigen Staatssekretär nicht mehr im Sessel. „Eine solche depressive Debatte“, verteidigte Hans Stimmann, vormals als Senatsbaudirektor für die städtebauliche Ödnis in der Friedrichstraße verantwortlich, seinen planerischen Voluntarismus, „kann es nur in Berlin geben.“ Eine Depression, konterte daraufhin sein Kontrahent, der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann, sei kein Grund, die Dinge nicht beim Namen zu nennen.
„Nur belehrt von der Wirklichkeit, können wir die Wirklichkeit verändern“, hat Brecht einmal gesagt. Was aber, wenn die Wirklichkeit nicht belehrt, sondern man sich vor ihr versteckt? Im Endstadium der Verdrängung, in das sich die Berliner Stadtentwicklung derzeit bewegt, zeigt der Wolf im Schafspelz plötzlich Zähne. Je mehr sich abzeichnet, daß nicht so sehr die neuen Urbaniten den Berliner Boden bevölkern werden, sondern Armutsmigranten aus Mittel- und Osteuropa, daß auch der Regierungsumzug die Talfahrt der Berliner Wirtschaft nicht aufhalten kann, neigt sich das urbane Gleichgewicht des Schreckens zugunsten des Exgenerals auf der Kommandobrücke. Für den Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) – Fromm würde ihn einen anal hortenden Charakter nennen – verkörpert die nationale Hauptstadt nicht nur das Ansehen Deutschlands in der Weltöffentlichkeit, sondern gehört gehörig aufgeräumt. Das betrifft nicht nur Wagenburgen und besetzte Häuser, sondern auch die multiethnische Realität der Stadt. Kaum hatte sein Senatskollege Strieder (SPD) Mitte vergangenen Jahres einen Anstieg des Ausländeranteils in Berlin von derzeit 13 auf 17 Prozent prognostiziert, warnte Schönbohm vor der Gefahr einer Überfremdung. Ausländische Bevölkerungsgruppen, so der Innensenator, dürften sich nicht dauerhaft als Fremdkörper etablieren, sondern „müssen bereit sein, sich auf die hiesigen Verhältnisse und Lebensbedingungen einzustellen“. Der Wille zur Bewahrung der eigenen Identität dürfe nicht Vorwand sein für „selbstisolierende Abschottung gegenüber deutscher Kultur, den Sitten und Gebräuchen“.
Anders als bei der Bemerkung des CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky, daß dort, wo Ratten sind, auch Gesindel sei, das man vertreiben müsse, rief Schönbohms Angriff auf die multikulturelle Gesellschaft keinen Sturm der Empörung hervor. In der zunehmend rauhen Wirklichkeit der Berliner Einwandererquartiere findet Schönbohms Forderung nach Unterwerfung unter die Sitten und Gebräuche der Mehrheitsgesellschaft nicht nur bei Konservativen Zustimmung, sondern mehr und mehr auch bei einer grün-alternativen Mittelschicht, die jahrelang den Multikulturalismus gepredigt hat und nun, da sich jener weniger in folkloristischen Apercus, sondern in zunehmender Aggression äußert, von der ungemütlichen Realität einer sich sozial spaltenden Stadt eingeholt wird. Das Verhaltensmuster der Verdrängung ist eben nicht nur ein Privileg der Berliner Politiker, sondern auch ein liebgewonnenes Mittel der Berliner, sich durch eine unbequeme Wirklichkeit hindurchzuwurschteln.
Der gemeinsame Nenner dieses vierten Stadiums der Verdrängung heißt dabei „Identität durch Ausgrenzung“. Während sich dieses sozialpolitische Krisenparadigma in den Urbanisierungswünschen der Masterplaner allenfalls im publizistischen Begleitfeuer äußerte, tritt es in der Säuberungs- und Ordnungspolitik des Innensenators offen zutage. Nicht umsonst wurde der Begriff der „Null Tolerance“ seit dem Besuch des New Yorker Ex-Polizeichefs William Bratton (einem Stadtneurotiker, wie er Woody Allen noch nicht vorgeschwebt war) dem Hauptwortschatz der Berliner Stadtpolitik einverleibt. War schon im Verdrängungsprojekt der Urbanisierung die Vorwegnahme der Spaltung in die, denen die Stadt künftig gehören soll, und in jene, die es aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Bürger zu verdrängen gilt, angedeutet, so braucht es in der Politik des Innensenators nicht einmal mehr einen städtebaulichen Mantel für die Politik der Ausgrenzung.
Dabei gäbe es auch in Berlin andere Stimmen aus den USA zu hören als die des ehemaligen New Yorker Polizeichefs. Neulich war Neil Smith in Berlin. Der renommierte Geographieprofessor aus New Jersey sprach auf einem Kongreß, den das Forschungsprojekt „Stadtentwicklung und Obdachlosigkeit“ an der Freien Universität organisiert hatte. Thema war natürlich auch hier die Politik der „Zero Tolerance“. Für Smith liegt das Motiv für eine solche Politik nicht in erster Linie in der Verbrechensbekämpfung oder mangelnden Geldern für soziale Projekte. Das harte Vorgehen gegen Bettler, Obdachlose, Drogenabhängige und Migranten sei vielmehr der Versuch, einer in Minderheit geratenen weißen Mittelschicht das Gefühl der kulturellen Hegemonie zurückzugeben. Angst, Ekel und Haß als Motor einer Politik der Spaltung. Smith nennt das das Konzept der „revanchist City“.
Noch ist man in Berlin nicht soweit. Angst, Ekel und Haß – allesamt veritable Symptome für das neurotische Stadium der Verdrängung – sind freilich auch hier bestimmende Motive im Denken einer in Verunsicherung geratenen Stadtplanung wie Mittelschicht geworden. Planung ist nicht länger Ausdruck einer Verdrängung der Wirklichkeit, sondern bereits Ausdruck der Angst vor jener Wirklichkeit, die durch eine solche Verdrängung hervorgerufen wird. Es ist der erklärte Wille, daß man nicht mehr die Probleme beseitigen will, sondern diejenigen, die man zum Problem erklärt. Das ist nicht mehr die psychische, sondern die physische Komponente des Begriffs Verdrängung. Eine Komponente, die im Englischen übrigens noch deutlicher zum Ausdruck kommt als im Berlinischen. Verdrängung heißt dort repression – Repression. Vom produktiven Zustand der Krise im Sinne Frischs kann dann keine Rede mehr sein, vom Beigeschmack einer Katastrophe dagegen um so mehr. Immerhin gelten die Städte auch hierzulande immer noch als Seismographen für den Zustand der Demokratie.
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