Wer stahl Amerika?

Sein City Lights Bookstore steht in jedem San-Francisco-Reiseführer. Lawrence Ferlinghetti verhalf der Beat Generation zum Durchbruch. Am Sonntag feiert er seinen 100. Geburtstag – und schreibt weiter

Ferlinghetti liest gern vor. Die Live-Performance ist der eigentliche Aggregat­zustand seiner Dichtung Foto: gezett/imago

von Frank Schäfer

Die Beat Generation war keine bloße New Yorker Veranstaltung, es gab auch eine Westküsten-Abteilung, die San Francisco Renaissance. Jack Kerouac pries sie als „eine Art alt-neuer Zen-Wahnsinnsdichtung“ und dachte dabei an Michael McLure, Gregory Corso, Gary Snyder, Phil Lamantia, Philip Whalen und nicht zuletzt an Lawrence Ferlinghetti, der mit seinem City Lights Bookstore und dem gleichnamigen Verlag zum Geburtshelfer dieser literarischen Bewegung werden sollte. Während sich die etablierten Verlage in Zurückhaltung übten, veröffentlichte er „Whitmans wilde Kinder“, teilweise zum ersten Mal, darunter spätere Klassiker wie Allen Ginsbergs „Howl“ und Frank O’Haras „Lunch Poems“. Ferlinghettis Rolle als Zeremonienmeister der San Franciscoer Literaturszene brachte ihm vermutlich mehr Ruhm ein als das eigene Werk, auch wenn sein zweiter Gedichtband „A Coney Island of the Mind“ längst zum Kanon gehört und das fünftes Gedicht dieses Zyklus in vielen US-Anthologien steht.

Es geht darin um einen „Zimmermann / aus irgend so ner überholten Gegend wie Galiläa“, der „voll den Durchblick“ zu haben glaubt und den man „zum Abkühln“ an einen Baum hängt. „Und seitdem bastelt sich jeder / unentwegt Modelle / von diesem Baum / mit Ihm oben dran / und schmalzen dauernd Seinen Namen / und rufen Er soll doch mal runterkommen / und einsteigen / in ihre Combo / als wär er der heiße Typ / der die Kanne blasen muss / ohne den sie’s nicht richtig gebacken kriegen / Nur dass er nicht runterkommt / von Seinem Baum / Hängt da bloß so rum / an Seinem Baum / und sieht ganz schön alle aus / und echt cool / und außerdem / wie’s in den letzten Schlagzeilen / der Spätnachrichten / aus wie üblich unverlässlichen Quellen heißt / echt tot“.

Wie alle Beats macht Ferlinghetti den bigotten „Squares“ die Hölle heiß – und nimmt sich den Jazz als Reaktionsbeschleuniger sowie ästhetisches Vorbild. Legendär sind die Jazz-und-Lyrik-Sessions im Nachtclub The Cellar, wo die Hausband ihm hilft, seine „oral messages“ unter die Leute zu bringen. Die Live-Performance ist der eigentliche Aggregatzustand seiner Dichtung. „Die Druckerpresse“, glaubt Ferlinghetti, „hat die Poesie so stumm gemacht, dass wir vergessen haben, welche Macht Dichtung als ,mündliche Botschaft' besitzt. Der Klang des Straßensängers wie des Predigers der Heilsarmee sind nicht verächtlich.“

Das richtet sich vor allem gegen die Dichtung der Eggheads, deren Formensprache und gelehrte Geheimbündelei die unakademische Leserschaft mit Absicht ausschließt. „Truth is not the secret of a few“, ruft er ihnen bereits in seinem Debüt „Pictures of the Gone World“ zu und weiß sich damit in der Tradition des Ur-Demokraten Walt Whitman und seinem Enkel im Geiste William Carlos Williams, deren freie Verse er für seine Dichtung fruchtbar macht. Das alte, archaische Amerika bleibt für ihn ein Sehnsuchtsort, der als Referenzgröße die kapitalistische Verelendung der zeitgenössischen USA umso deutlicher zeigt. „Wer stahl Amerika?“, fragt er in „Starting from San Francisco“, dem Titelgedicht seines fünften Lyrikbands.

Der Zweite Weltkrieg, der ihn als Marinekapitän nicht nur an die Küste der Normandie führt zum D-Day, sondern auch zu den „Landschaften der Hölle“ von Nagasaki „sieben Wochen nach Abwurf der zweiten Bombe“, macht ihn endgültig zum Pazifisten. Er ist auch bereit, sich dafür zu engagieren und seine Dichtung in den Dienst zu nehmen. Wie bei vielen, allen voran Allen Ginsburg, nicht immer zu ihrem Vorteil.

Er wird eines der Gesichter der sich politisierenden Gegenkultur, gehört zu den Stars auf dem „Human Be-In“, dem ersten großen Hippie-Stammestreffen, besucht Anti-Vietnam-Demos, Aufmärsche gegen Atomwaffen, und als er mit anderen Friedensaktivisten eine Musterung neuer Rekruten behindert, steckt man ihn ein paar Wochen ins Gefängnis. Beim FBI steht er da längst auf der Liste der Staatsfeinde. Man hat ihn im Visier.

Lawrence Ferlinghetti: „Little Boy“. Aus dem Englischen von Ron Winkler. Schöffling, Frankfurt a. M. 2019. 216 Seiten, 22 Euro

Beschämend spät kamen die Auszeichnungen

Es lag wohl an Ferlinghettis nie erlahmendem politischen Engagement und seiner festen Verankerung im links verzeckten Milieu, dass ihn die konservativen literarischen Institutionen viel zu lange ignoriert haben. Er gehörte nie so richtig dazu. Erst im hohen Alter kamen die bedeutenden Auszeichnungen. Mit 84, beschämend spät, wählte man ihn in die American Academy of Arts and Letters. Mittlerweile ist die Beat Generation Teil der Lehrpläne, sein City Lights Bookstore, wo er sich trotz seines hohen Alters immer noch regelmäßig sehen lässt, steht als Sehenswürdigkeit in jedem San-Francisco-Reiseführer, sein Verlag publiziert weiterhin Literatur, nicht nur in der Beat-Tradition, und er veröffentlichte gerade mit „Little Boy“ eine Art Autobiografie, die konventionell beginnt und schließlich als reißender Wortstrom über die Ufer tritt, eine poetische Meditation, im Wortsinn ohne Punkt und Komma, über sein inneres und äußeres Leben, das selbst oft genug poetisch war.

Am 24. März feiert er seinen hundertsten Geburtstag und ist offenbar in der glücklichen Si­tua­tion, den Huldigungen im Vollbesitz seiner ironischen Kräfte und mit seinem bekannten schmalen Lächeln zu begegnen.