Legendäre Land-Disco: „Nicht im Ritz, bei Fritz!“
Fritz Stagges „Stagge's Hotel“ in Osterholz-Scharmbeck war die erste Diskothek in der Gegend. Unser Autor hat die „Ära Stagge“ miterlebt.
Gleich die erste Bemerkung über dieses „Werk“ machte mich stutzig: Es ist da von seiner „Diskothek im Keller des elterlichen Hotels“ die Rede. Das habe ich ganz anders in Erinnerung! Der Regisseur erklärte: „Fritz Stagge personifiziert für mich den sprichwörtlichen ,kleinen Mann', der jedoch nicht nur kulturell etwas bewegte, sondern darüber hinaus auch noch Sozialarbeit leistete, wenn auch vielleicht eher unbewusst.“
Auch das habe ich anders in Erinnerung: Für mich personifizierte Fritz Stagge eher den ‚großen Mann‘ – insofern er erfahrener war und Besitzer der ersten richtigen Diskothek in der Gegend. Vorher gab es nur an den Wochenenden in den Hochzeitssälen von Osterholz-Scharmbeck und Worpswede nach dem Polka-Schwof der alten Disco-Musik für die Jungen.
Fritz Stagges Eltern besaßen ein altes Wirtshaus mit Hotel am Marktplatz, er arbeitete in einer Lackfabrik in Ritterhude. Mitte der Sechzigerjahre fing er an, den Dachboden des Hotels zu einer Diskothek auszubauen. Und nicht den Keller – vielleicht kam das später, als ich schon lange wegen der Bundeswehr in Westberlin lebte. Ich lernte Fritz Stagge jedenfalls auf dem Dachboden kennen, da war die Theke schon so gut wie fertig.
Auf „teufelsmoor.eu“ heißt es: „Am 15. Februar 1964 fand bei Stagge’s der erste ‚Plattenabend‘ und im Mai das erste Livekonzert statt.“ Die Disco unterm Dach muss aber später angelaufen sein. Ich arbeitete damals bei der US Air Force, die auf einem Truppenübungsplatz in der Garlstedter Heide eine „Radio Relay Station“ betrieb – mit zehn Airmen, wovon einer Unteroffizier war, die nächsten Offiziere saßen in Bremerhaven und kamen nur alle paar Wochen kurz vorbei. Dann versteckten wir unsere Frank-Zappa-Platten, weil sie verboten waren.
Laufend wurde einer aus der Gruppe nach Vietnam versetzt, dann gab es jedes Mal eine Abschiedsparty auf der Station, zu der auch Deutsche aus den umliegenden Dörfern und von Stagge’s kamen. Die Militäreinrichtung war Teil eines US-Warnsystems rund um die Sowjetunion und bestand aus der eigentlichen Radiostation und zwei Bungalows – einen zum Schlafen und einen mit Kino, Billard, Bibliothek, Küche und Bar (die regelmäßig von Haake Beck bestückt wurde).
Die Unteroffiziere waren durchweg Afroamerikaner. Sie hatten vorher Elektronik studiert – und waren nun im Herzen mehr oder weniger Black Panther. Bis auf eine Ausnahme waren sie alle musik- und tanzwütig und das war auch der Grund, warum wir, (muss ich jetzt sagen, weil ich nie allein bei Stagge’s war) dort aufkreuzten: Einer hatte erfahren, dass demnächst eine „Disco in Osterholz-Scharmbeck“ aufmachen würde und weil er besonders musikbesessen war, wollte er schon mal Plattenwünsche anmelden, Funk- und Soul-Musik vor allem. Und Fritz Stagge war dann auch interessiert. Der Sergeant fuhr als Einziger einen dicken Amischlitten.
Genussvolles Schritttempo
Wenn Disco und Bar dichtmachten gegen Morgen, ließen sich damit die in den Moordörfern vor Bremervörde wohnenden und vom Tanzen und Alkohol müden Mädchen nach Hause bringen. Ich erinnere mich an eine Fahrt, die endlos war, weil ein Hase die ganze Zeit vor dem Auto herlief und sich nicht aus dem Scheinwerferkegel ins Dunkle traute. Der Sergeant war rücksichtsvoll, aber er genoss auch das Schritttempo.
Aus der anderen Richtung – Worpswede, Fischerhude, Ottersberg – kamen viele Mädchen, die dort irgendwas mit Kunst machten, u.a. als Lehrling einer Goldschmiedin, Fotografin oder Töpferin, oder die als Schwesterschülerinnen arbeiteten. Sie wohnten alle nicht mehr bei ihren Eltern und nahmen erstmalig die Pille.
In unregelmäßigen Abständen finden im "Stagges Club" immer noch Tanzveranstaltungen statt. Die Termine gibt es hier.
Einer der Sergeants mietete für 50 DM monatlich ein leeres Forsthaus ohne Licht und Wasser auf halber Strecke nach Stagge’s. Der Anlass war jedoch unangenehmer Art: Es waren zwei weiße Soldaten auf die Station versetzt worden, sie kamen aus Texas, bezeichneten sich als „Deutsche“ und waren Rassisten. Weil es früher oder später mit ihrem schwarzen Vorgesetzten zu einem Zusammenstoß gekommen wäre, bei dem sie den Kürzeren gezogen hätten, wollte er sich in den „Barracks“ rar machen. Mit den Deutschen in den Dörfern und in der Disco gab es damals nie einen Konflikt, höchstens, dass einer der Airmen, ein stämmiger Ire namens Dan, im Suff gelegentlich verhaltensauffällig wurde.
Aber ich glaube, Fritz Stagge hatte das alles im Griff. Im Übrigen fuhren wir, wenn bei ihm nichts mehr los war, auch gerne weiter – nach Bremen oder Hamburg. Für die Amis gab es keine Alkoholkontrollen. Sie waren die Macht. Die Air-Force-Station wurde jedoch in den Siebzigern geschlossen und die Army rückte ein – in Kasernen, die die Bundesregierung ihnen auf dem Garlstedter Truppenübungsplatz errichtet hatte. Für ihre zuletzt 4.000 Zivilisten und die Familien der Armeeangehörigen wurden zudem in Osterholz-Scharmbeck Wohnungen und Sozialeinrichtungen gebaut, zwischen beiden Orten verkehrten Armeebusse, auf denen „O-Beck“ stand. Schon bald konnte man in vielen deutschen Geschäften mit Dollars zahlen und sagte auch „O-Beck“.
Die Quantität und Qualität der dort stationierten Amisoldaten, deren Division sich „Hell on Wheels“ nannte, führte jedoch dazu, dass es immer wieder zu „Rangeleien“ kam, auch bei Stagge’s, wie ich Wikipedia entnehme. Die Disco wurde irgendwann für die Soldaten verboten: „Off Limits“. Bei der Army gab es eine Trennung in Schwarze und Weiße bei ihren Amüsierorten, nicht zuletzt wegen ihrer unterschiedlichen Musikvorlieben.
Schon bald nach der Wiedervereinigung räumte die Army ihren Standort Garlstedt. Die Kasernen, Schulen und Wohnhäuser übergab sie 1993 der Bundeswehr, die daraus z.T. eine „Truppenschule für Logistik“ machte. Bei Stagge’s kam die Musik der DJs langsam in ein immer unsichereres Trudeln. 2000 verkaufte Fritz den renovierungsbedürftigen Laden, da war er 56. „Das große Herz muss Fritz Stagge schwer geworden sein“, schrieb einer seiner DJs im Weser-Kurier 2010. „Jahrzehntelang hatte es selbstbewusst geklungen: ‚Wir sind nicht im Ritz, sondern bei Fritz‘.“
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