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Lebensplanung für SinglesImmer in Verbindung bleiben

Die Kernfamilie schlägt zurück – mit Existenzangst und Unsicherheiten: Wie die coolen Singles der 80er ins Abseits gedrängt wurden.

Auch Störche fühlen sich nach neueren Umfragen wieder wohler in Familienverbänden Bild: dpa

Im öffentlichen Diskurs ist seit einigen Jahren von der Gefährdung der Mittelschicht die Rede. Wachsende Ungleichheiten, der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und die Prekarisierung von Arbeitsplätzen, haben zum Empfinden beigetragen, dass Lebensrisiken zunehmen und die Zukunft weniger kalkulierbar sei.

Als Folge sehnen sich viele Menschen heute wieder nach Sicherheiten und Traditionen. Darin zeigt sich eine Abkehr von Werten der Autonomie und der postkonventionellen Orientierungen, wie sie in der Vergangenheit vor allem in der 68er Generation und die Generation der Neuen Sozialen Bewegungen typisch waren. Viele fürchten sich heute nicht mehr in erster Linie vor Beschränktheit und Provinzialität, sondern vor Statusverlust. Sie suchen Bindungen statt Optionen.

Dies spiegelt sich auch in der Suche nach geschützten Lebensformen wider. Zwar leben mehr Menschen denn je heute als Single – die Zahl der Partnerlosen in Deutschland ist seit den 1970er Jahren kontinuierlich angestiegen und umfasst heute etwa acht Millionen Menschen –, doch hat die Popularität des Alleinlebens stark nachgelassen.

Singles sind heute keine Leitfiguren mehr. Im Gegenteil: Sie scheinen besonders anfällig für Risiken der Vereinsamung, des emotionalen Abstiegs und der sozialen Entkopplung zu sein. Doch stimmt das? Manchmal ja. Betrachten wir zum Beispiel Sibylle R., 47 Jahre alt, Single, in Berlin lebend und zurzeit arbeitslos. Sie kann als typische Bildungsaufsteigerin verstanden werden. Von ihrem Elternhaus und ihrer Herkunft aus dem Arbeitermilieu hat sie sich durch ihre Bildungslaufbahn weit entfernt. Nach dem Studium der Architektur scheinen alle Wege offen.

Scheitern und Niederlagen

Sie arbeitet zunächst in einem Museum, wechselt dann in die Bauwirtschaft und hört wieder damit auf, als der Bauboom im Osten sich erschöpft. Sie gründet eine eigene PR-Firma, die sich mit Vermarktungskonzepten für Immobilien befasste. Doch die Auftragslage ist mager, sie muss das Geschäft bald aufgeben. Nach einer längeren Bewerbungsphase tritt sie eine Stelle in einer Unternehmensberatung in München an: Ein Posten, der gemessen an den sonst in dem Unternehmen üblichen Gehältern, zwar nicht üppig bezahlt, aber nichtsdestotrotz ein „absoluter Glücksfall“ ist, wie sie sagt: Es sei wie ein später Aufbruch in eine normale, gefestigte Existenz gewesen.

Doch nach eineinhalb Jahren wird sie wieder entlassen, ihre neu bezogene Wohnung in München muss sie aufgeben. Sie erlebt dies als persönliche und nicht nur als berufliche Niederlage, ein Scheitern bei der zwar späten, doch auf hohem Niveau erfolgten Etablierung: Sie sei es leid, mit fast 50 Jahren noch wie eine Studentin zu leben. Ihre Chancen, in naher Zukunft eine adäquate Stelle zu finden, schätzt sie gering ein. Eine die Existenz sichernde Rente wird sie nicht bekommen. Auch das Eingehen einer dauerhaften Partnerschaft will nicht gelingen.

Diesen und viele andere spannende Texte lesen Sie in der taz.am wochenende vom 15./16. Juni 2013. Darin außerdem: „Der Krisenmigrant: Eric Vázquez Jaenada ist weg aus Spanien. Hauptsache Arbeit! Also nach Deutschland.“ Und: Deutsche Whistleblower kommentieren die Datenspionage des US-Geheimdienstes NSA. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Aus Enttäuschung wird Verzweiflung: Sibylle sieht sich an einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung. Von Freunden, die ihr „gute Ratschläge“ erteilen und sie schulterklopfend bemitleiden, hat sie sich distanziert. Die strukturelle Tatsache der Beschäftigungslosigkeit nimmt sich neben den introspektiven, selbstquälerischen Aspekten ihres Werdegangs nahezu harmlos aus: Sibylle fragt sich heute, warum es ihr nicht gelingt, ein „normales“ Leben in Partnerschaft und Beruf zu führen.

In gewisser Weise haben Singles wie Sybille den Anschluss an den neoliberalen Zeitgeist verpasst, paradoxerweise gerade weil sie die Botschaft der autonomen Lebensführung zu ernst genommen, sich zu lange zu viele Optionen offen gehalten, zu schnell und zu viel riskiert und sich dadurch die Rückkehroption in ein „normales Leben“ verbaut haben. Sie laufen nun Gefahr zu „aktiven Verlierern“ zu werden, weil sie nicht rechtzeitig „bürgerlich“ geworden sind.

Bild: TU Darmstadt
Cornelia Koppetsch

ist Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt. Im Campus Verlag ist im diesem Jahr ihr Buch „Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte“ (200 Seiten, 19,90 Euro) erschienen. 2006 veröffentlichte sie „Das Ethos der Kreativen“ (UVK Verlag, 29 Euro). Aktuelles Forschungsprojekt: „Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist. Zum Wandel von Geschlechterbeziehungen in Familie und Paarbeziehung im Milieuvergleich“.

Das war mal anders. Noch in den 1980er Jahren galten Singles als Speerspitze des Fortschritts. Sie prägten das Lebensgefühl einer ganzen Generation der „Babyboomer“ – also der zwischen 1958-1969 Geborenen. Häufig aus provinziellen Lebensformen oder beschränkten sozialen Lagen entstammend erlebte diese Generation als junge Erwachsene zunächst einen beträchtlichen sozialen und beruflichen Aufschwung. Dabei waren sie keineswegs von Ehrgeiz zerfressen. In ihrer Berufs- und Partnerwahl folgten sie ganz dem Prinzip der individuellen Autonomie.

Entfesselter Markt

Die Selbstverwirklichung hatte Vorrang vor lebenslangen Bindungen an Beruf, Partnerschaft oder Familie. Diese sollten in erster Linie der inneren Selbstentfaltung dienen. Das Einkommen war demgegenüber oft zweitrangig. Für die meisten Angehörigen dieser Generation ging die Rechnung zunächst in finanzieller wie persönlicher Hinsicht auf: Nicht nur konnten sie sich die Selbstverwirklichung beruflich leisten, sie wurden zu moralischen Instanzen, zu Normgebern einer postmaterialistischen Lebensweise.

Doch ab Ende der 1990er Jahre mussten sich die Ideale von Individualismus und Selbstverwirklichung plötzlich auf einem entfesselten kapitalistischen Markt bewähren. Der Druck ist zu hoch geworden, um sich romantische politische Ansichten in Arbeit und Beruf noch leisten zu können. Zahlreiche Beschäftigungs-Nischen wie ABM-Stellen wurden geschlossen. Universitäten und andere öffentliche Einrichtungen sind keine kulturellen Schmelztiegel mehr, sondern unterliegen dem Wettbewerb. Diejenigen, die am Gestus des Politischen festhalten, rücken ins Abseits.

Die Angehörigen dieser Generation spalteten sich nun häufiger in „Gewinner“, die den Absprung in die gesicherten Lebensumstände noch rechtzeitig geschafft haben und nun über ein festes Einkommen, Beruf und häufig auch Familie verfügen. Das Vorweisen einer solch „intakten“ Familie wird für sie oft zum wichtigen Status-Merkmal innerhalb des eigenen Milieus, aber auch gegenüber den prekären Lebenslagen. Demgegenüber stehen „Verlierer“ wie Sybille R., die in unkonventionellen Lebensformen verblieben sind. Sie bekommen nun die Härte fehlender biografischer Festlegungen und kollektiver Einbindungen zu spüren.

Entwertung alternativer Lebensstile

Die gilt zum Beispiel auch für Sabine S., 39 Jahre. Ursprünglich aus Ostberlin stammend, hat sie mit Mitte 30 ein Studium der Anglistik begonnen. Fest eingebunden im Freundeskreis von Studienkollegen spürte sie zunächst keinen Wunsch nach einer Partnerschaft. Zweifel an ihrer Lebensform als Single kamen erst auf, als ihre Freunde nach und nach in festen Partnerschaften „verschwanden“ und sie die Erfahrung machen musste, wie schwierig es ist, im fortgeschrittenen Alter neue Freunde zu gewinnen.

Auch kommt es zur Entwertung alternativer Lebensstile. Dies lässt sich sozialstrukturell am Verschwinden des „alternativen“ Milieus in Deutschland aufzeigen. Laut Sinus-Milieustudie umfasste dieses Milieu 1982 fünf Prozent der Bevölkerung, seit dem Jahr 2000 ist es nicht mehr feststellbar. Ein Teil davon hat sich seit den 1990er Jahren von der Protestkultur zum „postmodernen Milieu“ hin entwickelt, das alternatives Leben als ästhetisch-konsumistisches Projekt weiterführt, ohne damit noch einen politischen Anspruch zu verfolgen.

Und obwohl nichttraditionale Lebensformen außerhalb der bürgerlichen Kernfamilie bzw. Ehe, wie etwa Singledasein, Alleinerziehende und Patchworkfamilien, faktisch zugenommen haben, mehren sich heute die Stimmen, die Familiensinn beschwören und vor der „Zersetzung“ von Gemeinschaften warnen. Der Rückzug ins Private erfüllt auch kompensatorische Funktionen angesichts einer Arbeitswelt, in der Anpassung statt Autonomie und Selbstbehauptung gefragt ist. Im Privaten ist man „Herr“ der Lage, hier gilt, was man moralisch für richtig hält. Die Mentalitäten des neuen Jahrhunderts weisen mehr Ähnlichkeiten mit der Moral der 1950er und 1960er Jahre auf als mit der postmodernen Vielfalt der 1980er Jahre.

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13 Kommentare

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  • P
    privat

    primaten in großen und kleinen gesellschaften. mein kampf, dein kampf, alle kämpfen gegen die angst. angst - der entscheidende machtfaktor in gesellschaften, adresse: 3. planet, gelbe sonne, spiralnebel, genannt milchstraße( blickwinkel vom 3. planeten, gelbe sonne )

  • BI
    Bertram in Mainz

    Die ganze Diskussion hier wirkt auf mich abstrakt wie aus einem sozialwissenschaftlichen Seminar. Warum fragt man nicht die alltäglichen Menschen? Es gibt etliche Millionen Partnerlose. Wenn davon nur ein Drittel unglücklich ist, sind das immer noch Millionen. Leider wird bei diesem Thema gelogen wie bei kaum einem anderen. Früher gab es die Heuchelei bei der Sexualität. Jetzt ist Sexualität frei. Dafür gibt kaum jemand zu, wenn er als Single unglücklich ist.

     

    Familie wird seit über 40 Jahren miesgemacht. Für die 1968er war die "spießbürgerliche Kleinfamilie" Feindbild. Oder war es die "kleinbürgerliche Spießerfamilie"? Dann tobte der Gruppenkult der 1970er Jahre. Es war Konsens, dass in Zukunft die ganze Menschheit gruppenorientiert leben würde. In den 1980er Jahren kam die Ego-Welle. Die "coolen Singles der 80er" empfand ich als Ichlinge, die mit ihrer Ichbezogenheit noch prahlten. In den nächsten Jahrzehnten ließen Wirtschaftskult und Termindruck keine Zeit mehr für Familienleben.

     

    Inzwischen läuft die nächste Runde. Radikale Kinderschützer wittern in der unbeobachteten Familie nur Schlimmes. Diversen Ideologen ist Familie immer noch suspekt. Und die Wirtschaft will unbedingt Eltern als Arbeitskräfte mobilisieren und die Kinder so früh wie möglich für den Arbeitsmarkt fit machen.

     

    Das geht an den Bedürfnissen der Menschen offensichtlich vorbei. Kaum ein Schlagertext ohne Liebesgeschichte, ausgiebige Liebesgeschichten im Fernsehen, jeder Abenteuerfilm mit Liebesgeschichte, im Supermarkt riesige Mengen Regenbogenpresse mit nur diesen Themen, wer mit wem, wer getrennt, wer schwanger, wer mit Baby.

     

    Offiziell wollen wir alle nur uns selbst verwirklichen. Früher durch linkes Revoluzzen, heute im Job in der Wirtschaft, früher durch alternative Lebensformen, heute durch kaufen, kaufen, kaufen.

     

    Und da kommen doch (endlich!) ein paar Leute, die es (endlich!) wagen, für Familienleben einzutreten. Offensichtlich gibt es doch ein Bedürfnis nach Familie. Allerdings zeigt sich, dass meistens Modetrends von einem Extrem ins andere fallen. Ich hoffe, dass Familienleben wieder anerkannt wird. Aber ich hoffe, dass das nicht eingebettet in eine christlich-konservative Ideologie stattfindet! Früher gab es den einen Ernährer. Warum nicht heute in der modernen Familie zweimal Halbtagsstelle?

  • HW
    Hauptsache was politisches

    Hat Frau Professorin etwa nicht erkannt, dass die gesellschaftliche Entwicklung auf das zunehmende Alter der Protagonisten zurückzuführen ist?

    Dass die Mittzwanziger und -dreißiger der 80er und 90er heute stramm auf die Rente zugehen?

    Klar war die Aussicht auf 57%Arbeitslosenhilfe bis DZE irgendwie beruhigend und förderte die "Selbstverwirklichung", soziale Kontakte wurden deshalb aber nicht gefördert.

    Wer mit 40 noch auf der Walz ist hat kaum noch Chancen, jemals sesshaft zu werden, beruflich wie privat.

    Wer glaubt denn ernsthaft, dass einem die Kumpels dereinst im Altersheim besuchen?

  • N
    noevil

    Ich glaube, eine der folgenreichen Krankheiten der Achtundsechziger war die, dass viele Menschen nicht gelernt hatten mit der neuen Fülle der Möglichkeiten umzugehen, die sich ihnen eröffneten. Sie glaubten, dass ihnen alle Türen offenstehen und übersahen dabei, dass man immer nur durch eine Tür gehen kann - und sie stehen alle nicht für immer offen. Denn dazu kommt natürlich noch der Fakor Lebenszeit. Damit verringerten sich auch die verbleibenden Chancen.

     

    Sich zu entscheiden, hätte erst einmal gelernt werden müssen. Das hat die nächste Generation gesehen und sie hat daraus gelernt. Deshalb kann sie entscheiden und akzeptieren. Deshalb sind sie relativ "problemlos"- auch wenn das mit Sicherheit nicht der Realität entspricht sondern nur dem Wunschdenken derer, die in der Fülle der Möglichkeiten nicht imstande waren Entscheidungen zu treffen, ohne ständig bedauernd den Kopf nach all den anderen Chancen zurückzuwenden.Denn jede Zeit hat ihre eigenen Möglichkeiten und Probleme.

     

    Die Möglichkeiten sehen und sich dennoch nur für eine Sache entscheiden können, das ist ein Lernprozess, den so manche/r bis heute noch nicht für sich akzeptieren will.

  • J
    Jörn

    Hätte der spiessbürgerliche Werdegang da etwas geholfen? Würde sich arbeitslos und geschieden so viel besser anfühlen? Immerhin als Frau wäre sie finanziell durch Unterhalt zumindest noch etwas versorgt. Als Mann - zuerst geschieden, dann den Job verloren, dann Privatinsolvenz, da ohne Einkommen der Unterhalt nicht gezahlt werden kann, sähe es jedoch noch schlechter aus.

    Familie als Auffangnetz funktioniert immer seltener - für Frauen nicht und für Männer erst recht nicht.

  • G
    glocalchange

    Liebe Frau Koppetsch,

     

    entschuldigen Sie den Ausdruck, aber was für ein ausgemachter Unsinn.

     

    Ihre Argumentation, anhand zweier bedauerlicher Beispiele "belegt", zeichet leider ein sehr einseitiges Bild.

     

    Während es bedauerlich ist, dass Ihre gewählten Single-Beispiele tatsächlich unter Vereinsamung, emotionalen Abstiegs und sozialer Entkoppelung leiden mögen, stellt sich die Frage, was mit der anderen Teilmenge Ihrer Erkenntnis des "Manchmal ja" denn ist.

     

    Der Werdegang von Sibylle stimmt traurig und das soll es wohl auch das Bild aller (verlorenen) Singles da draußen.

     

    Ihre Einschätzung "nichttraditionaler Lebensformen" orientiert sich jedoch sehr traditionalistisch an gesellschaftlich breitgetretenen Konzepten, übersieht dabei aber die lebensbejahende Tragweite wirklicher nichttraditionaler Lebensformen, wie Polyamourie, offene Beziehungsführung oder dergleichen. Während der gesellschaftliche Konsens darüber größtenteils in Ablehnung/Nichtwissen verhaftet ist und solcherlei Konzepte als realitätsfern vorverurteilt werden, zeigt glücklicherweise eine wachsende Masse junger Menschen im Alter zwischen 15 und 35 Jahren, dass die Festlegung auf das eine oder das andere Konzept individuell nicht nötig ist und daraus resultierend auch ein "Absprung" aus jeglicher Entscheidung später möglich.

     

    Die Entscheidung zum Singledasein ist ja keine Entscheidung zur Entsozialisierung. Im Gegenteil, soziales Miteinander wird erst außerhalb partnerschaftlicher Zwänge frei und nach dem Herzen möglich und bedingt erst so ganz neue Möglichkeiten des Miteinander. Dabei geht es nicht um freie Liebe als vielmehr ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen Menschen - ermöglicht durch die offene und antizipative Kommunikation, die offene Bieziehungskonzeptionen voraussetzen, gerade weil den Menschen daran gelegen ist, niemanden zu verletzen.

     

    Der Bedeutung als "moralische Instanzen, den Normgebern einer postmaterialistischen Lebensweise" der Singles der 80er folgend, kann ich Ihre angeschlossene Argumentation nicht nachvollziehen. Dass sich die Ideale von Individualismus und Selbstverwirklichung nun in den 90ern plötzlich einem entfesselten kapitalistischen Markt bewähren mussten, ist nicht als Niederlage der Singles zu verstehen, sondern als Niederlage der Gesellschaft als Ganzes. Denn wo sind jetzt die moralischen Innstanzen, die doch scheinbar gesucht werden? Weder Familie noch freies Singledasein können den Kampf um die moralische Gewalt gewinnen, beide Lebensformen jedoch können wichtige Aspekte der Wertebildung in Individuen und Gruppen bewirken.

     

    Der wahre Gewinner über die verlorenen Werte und dass sich "alternative" Milieus scheinbar nur noch konsumistisch an ehemals politische Statements klammern, scheint jedoch der Systemkonformismus zu sein. Erst die Unterwerfung unter herrschende systemische Bedingungen konstatiert ein Manifest der Konformität.

     

    Mit anderen Worten, wenn Sie schreiben, dass Menschen den "Absprung in die gesicherten Lebensumstände noch rechtzeitig geschafft haben", frage ich mich was mit den Sicherheiten einer individuellen Lebensgestaltung passiert ist? Die sind wohl zum Opfer der Bejahung und Manifestierung eines Systems geworden, das von Wertesuchenden Menschen nur verneint werden kann.

     

    Ich lade Sie herzlich nach Eberswalde ein, hier Ihre Studien fortzuführen. Und danach an allen weiteren deutschen und anderen Orten auf diesem Planeten, zu denen Sie hier inspiriert werden.

     

    Beste Grüße

  • A
    ajemima

    Ernüchternder, großartiger Text! Merci!

  • N
    nemorino

    Danke für den interessanten Artikel. Das ist doch eine wunderbare Entwicklung, die da beschrieben wird. Traditionelle Werte und Bindungen sind den Deutschen wieder wichtiger. Da hätte die Verfasserin ruhig einmal durchblicken lassen können, wie hoffnungsvoll diese Tendenz ist. Offenbar ist doch noch nicht alles verloren. Danke TAZ!

  • NG
    neoliberal generierter Single

    Liegt das wesentliche Problem des sog. neoliberalen Zeitgeistes nicht vielleicht ganz einfach darin begründet, dass er von vielen Menschen quasi die Quadratur des Kreises fordert?

     

    - Einerseits sollen die Menschen autonom, flexibel, risikobereit und unabhängig (d. h. möglichst ohne familiäre „Vermittlungshemmnisse“) sein.

     

    Andererseits sollen die so geschaffenen Belastungen durch einen sog. „bürgerlichen“ Lebensstil wieder ausgeglichen und so die Härten, die der Neoliberalismus mit sich bringt, angeblich abgemildert werden.

     

    Suggeriert wird dabei, dass ein „bürgerlicher“ Lebensentwurf quasi die „wirksame Medizin“ und damit eine geeignete „Versicherung“ gegen die Blessuren sei, die sich die neoliberal sozialisierten Menschen zuziehen, wenn sie den Kräften des freien Marktes mit seinem hohen Konkurrenzdruck ausgesetzt sind.

     

    - Ist der bürgerliche Lebensentwurf also eine geeignete Stoßstange am neoliberalisierten Auto für einen Straßenverkehr, der an das kollisionsfreudige Autoscooterfahren in einem Freizeitpark erinnert?

     

    Schön wäre es, wenn die Sache so einfach wäre.

     

    Ich stelle dabei nicht in Abrede, dass familiäre Bindungen eine stabilisierende Wirkung in einem brüchiger werdenden sozialen Gesamtgefüge entfalten können.

    Allerdings können die neoliberalisierten Rahmenbedingungen für die Menschen, insbesondere diejenigen im Gefolge der Agenda 2010, auch in familiären Gemeinschaften (gleich ob mit oder ohne Trauschein) eine besondere Sprengkraft entfalten, da im Zuge von Hartz IV für die sog. Bedarfsgemeinschaften das Prinzip „mitgefangen, mitgehangen“ gilt, also quasi das Prinzip der Sippenhaft.

     

    Dem daraus resultierenden Druck auf den „bürgerlichen Lebensentwurf“ hält dieser dann nach meinen Beobachtungen wegen einer Kumulation psychosozialer Problemlagen in der Praxis oft nicht stand, und manche Beziehung scheitert daran. Zurück bleiben z. B. im Hartz IV-Bezug viele alleinerziehende Mütter, für die der Traum vom bürgerlichen Leben als Sicherheitsanker oft genug endgültig ausgeträumt ist.

     

    Meine Anregung für die wissenschaftliche Forschungstätigkeit von Frau Prof. Koppetsch wäre es daher, einmal empirisch belastbar zu untersuchen, wie sich die Rahmenbedingungen im Gefolge der Agenda 2010 (Stichworte insbesondere: Hartz IV und prekäre Beschäftigungsformen) auf familiäre und andere Bindungsgefüge auswirken.

  • H
    Hannes

    Bis auf den verkrampften Bezug zum "neoliberalen Zeitgeist", der aber ja nun mal in keinem taz-Artikel fehlen darf, ist das für taz-Verhältnisse ja fast so etwas wie ein richtiger Zeitungsartikel. Keine Schimpfwörter, weniger als zehn Rechtschreibfehler, keine lahmen "Ihr seid doch alle rechts, denn ihr seid anderer Meinung als ich"-Gekeife - das freut einen angesichts des sonstigen unterirdischen taz-Niveaus ja dann schon fast.

  • P
    p3t3r

    schon mal dran gedacht das die 68er eine veränderung ist, die angestoßén wurde, und sich wie ein pendel verhält.

    sie schwingt jetzt halt mal wieder zurück, allerdings nicht soweit wie früher sondern in einer vorwärtsbewegung und sie wird bald wieder in die andere richtung schwingen allerdings auch mit einer vorwärtsbewegung,

    die gesellschaft ändert sich das ist unweigerlich und nicht zu den alten, konservativen formen

  • A
    anke

    "Wir hätten ihn auch irgendwie anders fangen können", wird Obama auf einer anderen taz-Seite gerade zitiert. "Aber", so soll der US-Präsident sich selber anschließend relativiert haben, "die Bandbreite unserer Chancen [...] wird mit diesen Programmen [gemeint ist damit die Gesetz gewordene Schnüffelleidenschaft der zuständigen US-Behörden] größer."

     

    Sehr viel besser, finde ich, kann man den mitunter ziemlich fundamentalistisch anmutenden (Irr-)Glauben der Neuzeit an die Option als solche nicht auf den Punkt bringen. Eigentlich muss der moderne Mensch nicht alles haben, was er kriegen kann. Aber wollen tut er's halt doch, und sei es auch nur, weil das "Leben als ästhetisch-konsumistisches Projekt" irgendwie "geil" klingt. Die nicht beabsichtigten Folgeschäden sind dann (unter anderem): "wachsende Ungleichheiten, der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und die Prekarisierung von Arbeitsplätzen". Diese Folgen tragen ihrerseits wiederum "zum Empfinden bei[...], dass Lebensrisiken zunehmen", die "Zukunft weniger kalkulierbar" ist – und dass die Bindung an den (einen) Partner besser sind als ein Blick in die dunkle Röhre.

     

    Wer jetzt noch fragt, wieso der alte Goethe schon vor rund 200 Jahren von "jener Kraft" gesprochen hat, die angeblich "stets das Böse will und stets das Gute schafft" (nicht umgekehrt), dem ist auch mit gereimten Lebensweisheitenn nicht mehr zu helfen. Der ist nämlich einfach viel zu schnell für den eigenen Verstand.

  • M
    mir

    Das sehe ich ganz genauso.

    Meine Kinder sind spießiger, langweiliger, unpolitischer und artiger als ich (glückliche alleinerziehende Singlebabyboomerin) und im Vergleich zu ihren Freunden sind sie noch Gold.

     

    Ich frage mich immer, liegt es daran, daß Kinder grundsätzlich gegen Eltern aufmüpfen oder brauchst doch ein gewisses Maß wirtschftlicher Not, um politischer/ kreativer/ wilder/ verantwortungsvoller zu werden ?

     

    Diese satten, fetten, doofen, ungebildeten, uninteressierten, materialistischen Blagen sind nicht nur die Politiker/Konsumenten/Datenschützer/Umeltbewahrer von heute, nein...auch von morgen.

     

    Hat 'was Suizidales...das gibt Hoffnung