: Lebensfreude statt Therapie
■ Behinderte in der Rockgruppe Station 17 der Hamburger Stiftung Alsterdorf
Rauchschwaden hängen in der Luft, Gitarren werden gestimmt, der Synthesizer summt. Es herrscht Session-Stimmung im Probenraum der Hamburger Stiftung Alsterdorf – die Musiker von „Station 17“ sind gut drauf. Michael Schlappkohl stößt probeweise ein paar Brummlaute aus, Hans-Jürgen Witt hat zum Gitarrespielen schon mal seinen Helm aufgesetzt, und Manfred Müllers Füße wippen im Rollstuhl leise im Takt. Das Sprechen fällt ihnen schwer, aber singen und spielen können sie alle. Sie geben Konzerte, gehen auf Tournee und haben soeben ihre zweite Platte aufgenommen. Bei „Station 17“ machen geistig Behinderte Musik – und Rocksessions finden sie einfach klasse.
Das ungewöhnliche Projekt wurde 1988 von Kai Boysen, selbst Rockmusiker und Betreuer in der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung für Behinderte, ins Leben gerufen. Er und etwa zehn andere Musiker und Betreuer treffen sich regelmäßig mit den in acht Gruppen unterteilten, insgesamt 50 Mitgliedern von „Station 17“ zum Proben. Die meisten von ihnen leben in der Stiftung Alsterdorf. „Wenn unsere Musik jemanden betroffen machen sollte, nervt uns das ganz gewaltig“, hat Kai Boysen in den Cover-Text der zweiten CD geschrieben. Unmißverständlich macht er klar: „Dies ist Unterhaltung und keine Freak-Show“.
Das Musizieren soll nicht Therapie oder „Heilung“ sein für die Behinderten. „Wir spielen, weil's Spaß macht“, betont Boysen. „Und nach jahrelanger Übung spielen wir auch öffentlich, nehmen Platten auf und zeigen anderen Leuten, was wir können.“ Denn nicht chaotisches Durcheinander ist beim Musizieren angesagt, sondern durchaus das Entwickeln von Songs und eigenen Strukturen. Trotzdem gibt es jedes Lied nur einmal, und jedes Konzert läuft anders ab. Für die vor einer Woche erschienene zweite CD „Station 17 – Genau so“ wurden aus insgesamt 20 Stunden Musik schließlich 60 Minuten zusammengestellt.
Immer dienstags spielt die „Rockfraktion“ von Station 17. Die Gitarristen Kai Boysen und Stefan Walter, der Bassist Giesbert Kellersmann und Schlagzeuger Harre Kühnast halten ständig Blickkontakt zu den behinderten Musikern, ermuntern, regen an, fordern auf und locken die anderen behutsam aus ihrer Reserve. Michael an seiner weißen Trommel schneidet Grimassen, wirft den Kopf zurück und lacht. Er hat Spaß am Improvisieren, singt beim Trommeln oder bläst in kleine Tröten und Hupen. Mit vornübergebeugtem Oberkörper lehnen Thorsten Grimm und Wolfgang Kiebach am Synthesizer über dem Keyboard und konzentrieren sich auf ihre Akkorde. Manfred im Rollstuhl schaut am Mikrofon vorbei und läßt sich lange bitten, bevor er singt. Hans-Jürgen hat die Gitarre zur Seite gelegt und dirigiert.
„Manchmal, wenn es so richtig gut läuft, haben die Lieder eine unglaubliche Magie, da stimmt einfach alles“, sagt Boysen. Dann sieht man an den Gesichtern der Musiker, daß nicht das Kranksein im Vordergrund steht, sondern die Lebensfreude und der Spaß an Rhythmik und Musik.
dpa
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