Leben ohne das Spiegelbild: Spieglein, Spieglein an der Wand
Unsere Autorin findet, dass sie zu oft in den Spiegel schaut. Deshalb beschließt sie ein einwöchiges Spiegelverbot. Ein Erfahrungsbericht.
Vorsichtig fasse ich den Spiegel im Schlafzimmer mit beiden Händen an der Seite an, balanciere ihn auf einer Kante, „jetzt bloß nicht loslassen“, denke ich panisch und drehe ihn in einem Schwung um. Für einen kurzen Moment bin ich stolz, den rahmenlosen Koloss allein gestemmt bekommen zu haben. „Häng doch einfach was darüber!“, ruft meine Mitbewohnerin aus dem anderen Raum. Recht hat sie, daran hatte ich nicht gedacht. Und trotzdem: Der Moment des Umdrehens fühlt sich endgültiger an.
Denn ich möchte nicht mehr in den Spiegel schauen. Nicht für immer. Aber zumindest mal ausprobieren, wie das so ist. Die beiden Ganzkörperspiegel und der kleine Schminkspiegel im Bad müssen es mir verzeihen, sie schauen nun eine Woche auf weiße Wände. Ich verspreche mir die ganz großen Erkenntnisse vom Sieben-Tage-Experiment: innere Ruhe, Selbstvertrauen, vielleicht auch Weltfrieden, denn bin ich entspannter, sind es meine Mitmenschen ja vielleicht auch.
Denn es ist so: Ich schaue sehr oft in den Spiegel. Wenn der Wasserkocher im Büro läuft, der Rechner hochfährt oder die Kollegin für die Mittagspause zu spät dran ist, stehe ich im Bad. Ich richte die Haare, zupfe am T-Shirt, trage Lippenpflege auf.
Allein bin ich mit meiner Eitelkeit auf keinen Fall, mehr als 3,5 Stunden verbringen Menschen im Durchschnitt täglich, um schöner auszusehen. In der Studie von 2023 geht es nicht nur darum, wie lang die Befragten vor dem Spiegel standen, sondern auch um die Zeit, die sie für Diät, Sport und Körperpflege nutzen, um attraktiver zu wirken. All meine Blicke in den Spiegel zusammengerechnet machen noch keine drei Stunden aus, und doch überrascht es mich nicht, wie viel Raum unser Aussehen einnimmt. An schlechten Tagen verschwende ich bestimmt eine Stunde mit dem Spiegel, wenn ich mich schminke und mir die Haare mache.
Spiegelfasten als Beauty-Geheimnis
Besonders die sozialen Medien sind voll von Trends, die sich um das eigene Aussehen drehen und unsere Obsession mit dem Spiegelbild verstärken. Momentan fragen Nutzer*innen proaktiv auf Tiktok und Instagram, was ihr Blinder Fleck in puncto Aussehen sei. In den Kommentaren steht dann: „Deine Augenbrauen könnten dünner gezupft sein!“ oder „Versuchs mal mit einem pinkeren Blush.“
Auch mein Spiegelfasten entstammte – wie sollte es anders sein – einem Instagram-Video. In dem Clip fragt eine Reporterin auf dem roten Teppich eine Schauspielerin nach ihrem Beauty-Geheimnis. Ihre Antwort: „Weniger in den Spiegel schauen“. Eigentlich trivial. Mindblowing für mich. Wer nicht weiß, dass die Haare vom Kopf abstehen, den stört es auch nicht. Ich male mir mein sorgenfreies Leben aus, drehe die Spiegel um und werde am ersten Tag direkt enttäuscht.
Ich fühle mich verklatscht, brauche ewig, um mich für eine Hose zu entscheiden. Passt sie zum blauen Pullover? Ich schaue an mir herab. Es ist ein komisches Gefühl, sich selbst nur noch in dieser gestückelten Variante zu sehen. Die „Leibperspektive“ ist meine einzige Möglichkeit zu überprüfen, wie mein Körper aussieht.
Habe ich Soße im Gesicht?
Auf dem Weg zur Arbeit spiegele ich mich in der Scheibe der S-Bahn, in der Glastür zum Büro und auf meinem nicht entsperrtem Handybildschirm. Ich setze mir eine Regel: Das Experiment ist beendet, wenn ich mich bewusst entscheide, in den Spiegel zu schauen. Alle zufälligen, unbeabsichtigten Blicke zählen nicht, dafür glänzen die Oberflächen in dieser Stadt zu sehr. Mein Elster-Ich kann ihnen anscheinend nicht widerstehen.
Meine Gedanken im Büro kreisen um mein Aussehen. „Habe ich noch Soßenreste im Gesicht? Und falls dem so ist, sagt mir jemand Bescheid?“ Ich erzähle meinen Kolleg*innen von meinem Experiment, in der Hoffnung, dass sie mich im Notfall auf Essensreste ansprechen. „Ich schaue nicht mehr in den Spiegel“, verkünde ich. „Du liest nicht mehr den Spiegel?“, fragen erstaunlich viele von ihnen. Auch die Nichtjournalist*innen verstehen den Sinn meiner Challenge nicht. Und so ganz glaube ich an die Wirkung nach einem Tag auch nicht.
Es ist Dienstagabend. Ich habe den Tag mit ein paar Spiegelungen überstanden. Für Zoom-Meetings am Morgen lasse ich die Kamera aus oder halte mein eigenes Bild mit der Hand zu. So viel Aufwand für Frust. Wo bleibt die gewünschte innere Ruhe?
Die Obsession beginnt früh
Am Abend sitze ich bei zwei Freund*innen auf dem Sofa. Sie schminken sich aufwendig und machen Selfies vor dem Spiegel. Es ist das erste Mal, dass ich mich über meine Challenge freue. Ich esse entspannt den letzten Rest des Flammkuchens, ziehe meinen Pony im Bad kurz mit einer Bürste durch den Föhn und trage ein wenig Blush auf. Ganz lösen kann ich mich von meinem Äußeren eben nicht.
Und diese Obsession beginnt erstaunlich früh: Bereits in der Kindheit hängt unser Selbstwertgefühl von unserem Aussehen ab. Das fand eine Studie von 2023 heraus. Die Forscher*innen befragten Kinder aus mehr als 21 Ländern und Regionen, was ihr Selbstwertgefühl steigert: gute Noten, sportliche Leistungen oder Zuneigung von ihrer Familie etwa. Mehrheitlich und über kulturelle Unterschiede hinweg genannt war aber das Aussehen.
Dass ich entspannt, ohne gestylte Haare und viel Make-up in die Bar oder zur Arbeit gehen kann, ist nicht selbstverständlich. Als junge weiße Frau, in einem Haus ohne Dresscode, fällt mir der Schritt, mich äußerlich anzupassen, auch ohne Spiegel leichter. Würde ich im Pyjama im Büro sitzen, es würde nicht auffallen. Die Arbeit, die ich in meinen Körper stecke, um als gesellschaftsfähig zu gelten, bleibt überschaubar. Auch mit Spiegel gehe ich oft ungeschminkt zur Arbeit. Einzelne Personen für die Zeit, die sie vor dem Spiegel verbringen, zu verurteilen schießt am eigentlichen Ziel vorbei.
Der einzig wahre Blick in den Spiegel
Es sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Mechanismen, die unser Empfinden darüber beeinflussen, was schön und was hässlich ist. Und egal wo man auf dieser Skala steht, freut sich die Schönheitsindustrie über jeden kleinen Makel, den wir im Spiegel sehen. Denn für jede Unsicherheit gibt es das passende Produkt oder die Behandlung. Genau dieser Logik versuchte ich, mich zu entziehen. Auch wenn ich nach drei Tagen noch immer befühle, ob mein Pony richtig sitzt. Erst am vierten Tag wollte ich nicht aus Zweifel an meinem Aussehen in den Spiegel schauen, sondern weil ich glaubte, ein gutes Outfit ausgewählt zu haben.
Der vielleicht einzig wahre Blick in den Spiegel ist unser allererster. Zwischen 18 und 24 Monaten begreifen Kleinkinder zum ersten Mal, wen sie im Spiegel sehen. Dieser Moment des Entzückens ist ein erster Schritt, die eigenen Identität zu entdecken. Und zu dieser gehört, wie ich merken musste, auch noch im Erwachsenenalter das Spiegelbild.
Das Experiment endet mit einem zweiten Entzückungsmomet für mich. Am Freitag steuerte ich gedankenverloren nach Feierabend eine H&M-Filiale an, fand eine passende Jeans und betrat die Umkleidekabine. In der Sekunde, in der ich den Vorhang zur Seite schiebe, bemerke ich viel zu spät dieses Objekt, das ich seit Tagen so krampfhaft zu vermeiden versuche. Zum ersten Mal seit Sonntagabend schaue ich bewusst in den Spiegel. Ich fühle mich erleichtert und glücklich, mich wieder zu sehen.
Das Spiegelbild gehört zur Identität
Die Ruhe kehrte wohl mit der Gewissheit zurück, endlich wieder die Kontrolle über das Spiegelbild zu haben. Das mag nach all den negativen Gedanken, die ich mit meinem Spiegelbild verbinde, wie ein Widerspruch klingen.
Und doch zeigt es – genau wie die Studien: Unser Äußeres ist ein relevanter Bestandteil unserer Identität, ob man will oder nicht. Und dieses Stück seiner selbst aufzugeben, kann nur schwerfallen. Dennoch glaube ich, dass es uns guttäte, weniger über unser Äußeres nachzudenken. Statt einem kompletten Verbot versuche ich jetzt seltener und bewusster in den Spiegel zu schauen.
Meine Challenge ist vorerst beendet und so schloss ich ein wenig Frieden mit meinem Aussehen, an einem der unpassendsten Orte: einer Umkleidekabine.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann