Leben mit Multipler Sklerose: Das Missempfinden des Thomas Worch

Hat ihn die DDR krank gemacht? „Hundertprozentig.“ Der Autor Thomas Worch lebt ein zerbrechliches Leben. Nicht erst seit der Diagnose MS.

Der Kopf eines Mannes vor gemusterter Tapete

„Ich lebe total gerne, und trotzdem spüre ich eine selbstzerstörerische Kraft in mir.“ Thomas Worch. Foto: Karsten Thielker

BERLIN/NEUMÄDEWITZ taz | Er wirkt sehr zart, nicht gebrechlich. Thomas Worch hat seit fünfzehn Jahren MS – Multiple Sklerose, eine Erkrankung des Nervensystems. Brennen, Kribbeln, Stechen, Taubheit, Schwindel, Muskelschwäche, Sehstörungen gehören zu den Symptomen dieser schubhaft verlaufenden Krankheit. Eine Überempfindlichkeit der Sinne, eine verschobene Wahrnehmung, ein Missempfinden des Körpers, dem die Nerven ständig Streiche spielen.

„Die Ausfälle bleiben“, sagt Thomas Worch. Beim Arzt muss er manchmal auf einer Linie laufen – er steht auf, macht Schritte. „Ich treffe beim Anziehen den Schuh wieder“, sagt er und lacht. Er hat schmale Lippen, ein schmales Gesicht, dunkle, im Nacken gestufte Haare. Im Frühjahr wird er sechzig. Seit drei Jahren gab es keinen Schub mehr. Er hat ein Buch über die Erkrankung geschrieben, „Schönheit und Gebrechen“.

Thomas Worch, 1956 in Leipzig geboren, war oft krank. Magenresektion, TBC, Herzmuskelentzündung, schon als junger Mann, später dann MS und – vermutlich als Folge der Kortisonbehandlung – 2014 ein Herzinfarkt. Ein Leben, das sich im Takt der Klinikaufenthalte und Therapien erzählen lässt.

Krankheit als System, als Verweigerung, als Ausweichen gegenüber dem Leben, der Gesellschaft? „Darüber grübele ich bis heute“, sagt Worch. „Ich lebe total gerne, und trotzdem spüre ich eine selbstzerstörerische Kraft in mir.“ Muss er das nicht glauben? Seit Ausbruch der MS ist Thomas Worch frühverrentet. Feine Ironie blitzt auf. „Da schließt sich der Kreis. Jetzt habe ich wieder meinen alten DDR-Versorgungsstatus erreicht.“

Treffpunkt „Oderkahn“

Thomas Worch stammt aus einer DDR-Diplomatenfamilie, war später Teil der Künstlerszene Ostberlins. Heute reiht sich in der Oderberger Straße im Prenzlauer Berg Kneipe an Kneipe. Das Café „Entweder Oder“ gab es früher schon, damals hieß es „Oderkahn“. Thomas Worch legt im Café seinen Hut auf den Stuhl neben sich, einen Stetson. Gegenüber habe sich ein Fleischer und der erste Kinderladen der DDR befunden, erzählt er, und gleich um die Ecke in der Kastanienallee 13 hat er in den Achtzigern gelebt.

Wo sich heute ein Restaurant befindet, konnte er damals von oben auf die Auslagen eines Gemüseladens blicken und erspähen, was es zu kaufen gab und wer ihn beschattete. „Sehen Sie das Mäuerchen“, fragt Worch bei einem Spaziergang und zeigt auf die gegenüberliegende Seite. „Dort saß er dann.“

Die Beschatter blieben sechs Wochen, dann Pause, Worch kannte die Spielchen. „Ich bin ja mit denen aufgewachsen. Aber das Psychomäßige war schon eklig.“ Einmal haben sie seine Wohnung durchsucht und ein Foto von ihm an die Wand genagelt. Aber ein Blick aus dem Fenster reichte und weg war der Worch – über den Hinterhof getürmt, seinen Freund Harald Hauswald, den Fotografen und späteren Mitbegründer der Agentur Ostkreuz, besuchen, oder Lutz Rathenow, den Autor und Bürgerrechtler, der heute in Sachsen Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ist. „Er hat meine ersten Texte gelesen.“

„Ich hatte ein paar Gedichte geschrieben.“

Der Prenzlauer Berg Anfang der Achtziger – das bedeutete für Thomas Worch Neuorientierung. „Denk dir was aus, hat mir jemand gesagt. Wir machen hier alle was Kreatives. Ich konnte nicht malen, keine Musik machen. Aber ich hatte ein paar Gedichte geschrieben.“ Im Prenzlauer Berg versammelte sich die Boheme, es gab wilde Feste, Hausbesetzungen, Aussteiger, oppositionelle Christen, die Mischung war bunt, kein Akademikerghetto wie heute.

„Doch spätestens 1986 konnten wir uns alle nicht mehr leiden“, sagt Worch amüsiert. Nur Abgänge Richtung Westen, der Kreis wurde zu eng. „Es stand fest, dass man gehen muss.“ Aber sie ließen ihn nicht gehen, sein Ausreiseantrag wurde mehrfach abgelehnt, bis er ihn 1987 zurückzog, einen Job beim Dokfilm-Studio Berlin annahm und 1989 über Ungarn ausreiste. „Das musste sein, um mir treu zu bleiben.“

Als Kind durfte Thomas Worch reisen. Der Stiefvater ist Diplomat, Syrien und Ungarn gehören zu den Stationen. Zwischendurch lassen ihn die Eltern zwei Jahre bei einer Tante auf dem Dorf, mit 16 allein in Ostberlin, im „Haus der 1.000 Staatsdiener“ in der Spandauer Straße, wo er das Milieu der SED-Funktionäre und Stasimitarbeiter näher kennenlernt. Er macht eine Lehre als Nachrichtentechniker, geht zur Armee, studiert Außenwirtschaft – die Diplomatenlaufbahn ist vorgezeichnet. Ein privilegiertes, kein behütetes Leben.

Hat Sie die DDR krank gemacht?

„Gefühle wurden mit Geld kompensiert. Ich habe das nicht hinterfragt. Aber ich habe geahnt, dass etwas nicht stimmt.“ Thomas Worch bricht das Studium ab, und als er 1984 einen Ausreiseantrag stellt, der ihm, als Diplomatenkind, niemals genehmigt werden wird, kommt es zum endgültigen Bruch mit dem Vater.

Hat Sie die DDR krank gemacht? – „Hundertprozentig.“

Nur einmal kommt es nach der Wende zu einem Annäherungsversuch mit den Eltern. Der Vater sitzt heute krank und uneinsichtig zu Hause, er kann nicht mehr gehen. Ohne MS.

Thomas Worch ist kein bekannter Autor. „Das Erfolgsgen ist den Ossis nicht mitgegeben“, spottet er. „Im Osten musste man keinen Erfolg haben wollen. Das Selbstausbremsen steckt bis heute in mir drin.“ Er sattelt in den Neunzigern auf PR-Berater um. Er schreibt einen Kriminalroman und einen Reiseführer über das Oderbruch.

Ein gesundes Leben im kranken

In die Grenzregion im Osten Deutschlands hat er sich jahrelang zurückgezogen. Ein gesundes Leben im kranken ausprobiert. Neumädewitz heißt der Ort mit 70 Einwohnern. Die Gegend ist flach, kolonisiertes und der Oder abgetrotztes Land.

Das kleine Haus, das Thomas Worch mit seiner Frau hergerichtet hat, liegt wie alle Häuser an der Dorfstraße, zartrosa getüncht mit hellgrünen Läden, die Hähnchenmastanlage hinter den Feldern kann man mit bloßem Auge erkennen. Die haben sie trotz Bürgerinitiative nicht verhindern können. Dafür gibt es jetzt hinter dem Haus eine Streuobstwiese. Da muss der Mastanlagenbesitzer immer herumlaufen, freut sich Worch.

Die DDR-Mentalität ist auf dem Land noch tief verankert. Worch hat es kurz in der Piratenpartei probiert, auch da sind ihm ehemalige IMs begegnet. Wie er das aushält? „Gar nicht.“ Er ist jetzt wieder mehr in Berlin. „Da ist es ehrlicher.“

Ein Foto im Flur

Im Hausflur in Neumädewitz hängt eine Fotografie von Harald Hauswald. Drei Männer in der U-Bahn, „Feierabend“ heißt es. Müde Gesichter, der Mann in der Mitte stützt sich auf seine Ledertasche, eine Hand ist bandagiert, das Gesicht etwas nach vorn gesunken, sein Doppelkinn ist zu sehen. „Ich war dabei, als Harald das Foto gemacht hat“, erzählt Worch.

Heute sehen sie sich nur selten. Veteranentreffs findet er „furchtbar“. So wie letztes Jahr, als ein Zeit-Redakteur ein Hauswald-Bild von einem Fest im besetzten „Hirschhof“ nachstellen ließ. Worch war mit dabei. „Wir sind danach in alle Richtungen auseinander. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Uns hat ja nur die Opposition gegen die DDR zusammengehalten.“

Und trotzdem lässt ihn die DDR nicht los. Eine Skandalchronik des Prenzlauer Bergs zu schreiben, gehört zu den Sachen, die er sich vornehmen will. „Da ist so viel Lüge und Selbsttäuschung dabei. Vieles war einfach nur Zufall und banal.“ Oder die Dorfgeschichten im Oderbruch aufschreiben. Schreiben ist existenziell für Worch: „Es wird unterschätzt, was es heißt, aus dem gesellschaftlichen Leben herauszufallen.“

Menschen in Kliniken

Das Krankheitsbuch ist ihm schwergefallen. Es ist ein autobiografischer Text, kein Roman, einerseits eine Chronologie der Erkrankung, des Umgangs mit ihr, andererseits öffnet er sich den Menschen, die Worch bei seinen Klinikaufenthalten begegnen. Wolfgang Herrndorfs Krankenjournal „Arbeit und Struktur“ hat er nicht gelesen.

Vielleicht ist Worchs Neugier das Korrektiv, das er meint und das er braucht, wenn er von der Gefahr der ständigen Selbstbeobachtung spricht. Thomas Worch hat eine leichtere Form der MS. Er sitzt nicht im Rollstuhl. Leicht ist das trotzdem nicht. „Das normale Leben läuft ab wie im Film. Es beeindruckt einen. Aber das bin nicht ich, der daran teilhat.“ Thomas Worch hat viele Medikamente ausprobiert und vor allem seine Ernährung umgestellt. Die Multiple Sklerose ist ein „schlafendes Ungeheuer“, das er entdämonisieren konnte. Es hat gedauert.

„Es gibt etwas Unerfülltes in mir.“

Dass er jetzt herzkrank ist, relativiert die MS und ist zugleich „viel unheimlicher“. „Bei der MS verfällt der Körper, aber daran sterbe ich nicht. Das Herz ist das Zentrum.“ Insofern ist die Abfolge seiner Erkrankungen „folgerichtig“, sagt Worch. Wie viel hat das Kranksein mit einem selber zu tun? „Jetzt wird’s esoterisch“, sagt Worch und lacht. In solchen Momenten gestikulieren seine Hände aufgeregt. „Es gibt etwas Unerfülltes in mir. Aber ich weiß nicht, was das ist. Als hätte ich eine Aufgabe nicht gelöst im Leben.“

Es ist nicht weit von Worchs Haus zur Oder. Vorbei am „Theater am Rand“, dem trotz seiner Lage Erfolg beschert ist. Fahrradwege trifft man erst am Fluss wieder an. Hier hat Europa investiert. Gegenüber liegt Polen. Es fängt an zu dunkeln, eigentlich ist es nie richtig hell geworden an diesem Tag. „So ein Wetter ist mir lieber“, sagt Thomas Worch. Es spaßt nicht und schärft den Sinn für Schönes – so wie die entblätterten, knorrigen Bäume, die sich dunkel und ganz und gar nicht gebrechlich gegen den Fluss abheben.

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