Leben in der Pandemie: Coronafantasien
Wir müssen kreativ werden, um im weitesten Sinne ungeschoren von den bürokratischen Einschränkungen und von dem Virus davon zu kommen.
L angsam sollte Schluss sein damit, wie das Kaninchen auf die Schlange Pandemie zu starren und alle Eindämmungsmaßnahmen mitzumachen beziehungsweise überzuerfüllen. Auch mit der folgenlosen Kritik an ihnen und an den unverantwortlichen (rechten) Coronaleugnern. Es ist jetzt eben nahezu weltweit die Hochzeit der rechten Bewegungen, das ist wie ein Virus, das sich ausbreitet. So sahen jedenfalls die Philosophen Deleuze und Guattari die internationale linke Bewegung: „Das Werden einer Bewegung ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht.“ Auch Coronabücher gibt es inzwischen mehr als genug.
Jetzt muss die Beschäftigung damit produktiv werden, das heißt, es gilt, sich zu überlegen, wo es Gesetzeslücken, Nischen, Möglichkeiten, auch ökonomische, gibt, in denen man was machen (tun) kann – trotz zunehmender Einschränkungen.
Wenigstens wäre es sinnvoll, sich umzusehen, was die Leute überall auf der Welt an Fantasien entwickeln, um im weitesten Sinne ungeschoren von den Einschränkungen und vom Virus davonzukommen.
In der ersten Coronaphase begann das mit ganz vielen Witzen, Comics, Fotos über die Pandemie, und sicher hat der eine oder die andere daraus auch finanziellen Gewinn gezogen – übers Copyright, mit Corona-Apps, -Foren, -Chats … Ein wahrer Witz: „Nach einem Zoomkongress geht man anschließend doch nicht in den Puff“, klagen die Taxifahrer, die ebenso wie die Prostituierten und die Restaurant- und Café- oder Spätibetreiber langsam depressiv werden. Auch dass die halbwegs gut bezahlten Kopfarbeiter in ihr „Homeoffice“ gehen und sich von schlecht bezahlten Handarbeitern bedienen lassen, ist ein Witz, ein schlechter.
Work-Space statt Café
Eine andere Idee wäre, aus einem Café oder Ähnlichem einen Co-Working-Space mit Computern auf den Tischen zu machen – das ist dann ein Geschäft wie ein Lebensmittelladen, der eben Rechnerzeit für Leute, die nicht zu Hause arbeiten können oder wollen, verkauft, und sie dazu aus dem Café-Angebot bedient. Wenn das einer nachts machen würde, wäre das ein Bombengeschäft: Alle vereinsamten Computerarbeiter würden mit und ohne ihre Laptops dorthin strömen, um in gemütlicher Atmosphäre und in Gemeinschaft bei Kaffee und Kuchen ihrer monomanischen Tätigkeit nachzugehen oder sich zu unterhalten … unter Einhaltung der gerade aktuellen Abstandsregelung natürlich.
Es geht ja darum, Nischen, Gesetzeslücken, Freiräume auszunutzen, ohne sich und andere groß zu gefährden, sowohl in Hinsicht auf Viren als auch auf Polizei und Ordnungsämter. Wir haben uns früher mit den Studien des Linguisten Ulrich Oevermann beschäftigt, der herausfand: Die Unterschicht hat ein aktives Verhältnis zum Gesetz, während die obere Mittelschicht und Oberschicht ein interpretatorisches Verhältnis zum Gesetz hat: Sie sehen sich dieses genau an und überlegen, wie sie drumherum manövrieren können.
Es gibt eine ähnliche französische Studie, ohne diesen Klassenunterschied, die uns begeistert hat: Der Soziologe Michel de Certeau hat darin den anonymen „Man on the Street“ als urbanen „Trickster“ dargestellt, wobei er einerseits die Totalität der Lebensverhältnisse in unseren heutigen „elektronisierten und informatisierten Riesenstädten“ als eine Besatzungsmacht herausarbeitete und andererseits den vereinzelten Konsumenten darin als einen Partisan des Alltags begriff (in: „Kunst des Handelns“, 1988).
Unendliche Metamorphosen
Dieser muss nämlich ständig versuchen, die zahlreichen und unendlichen Metamorphosen des Gesetzes der herrschenden Ökonomie in die Ökonomie seiner eigenen Interessen und Regeln ‚umzufrisieren‘“. Seine Mittel sind dabei „ortlose Taktiken, Finten, eigensinnige Lesarten, Listen …“ Bereits der Kriegstheoretiker Clausewitz verglich die List mit dem Witz: „Wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen.“
Für Certeau sind nun „die Handlungsweisen der Konsumenten auf der praktischen Ebene Äquivalente für den Witz“. Wobei die intellektuelle Synthese ihrer Alltagspraktiken nicht die Form eines Diskurses annimmt, sondern „in der Entscheidung selbst liegt, das heißt im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit ‚ergriffen wird‘“. All diese operationalen Leistungen lassen sich auf sehr alte Kenntnisse zurückführen: „Die Griechen stellten sie in der Gestalt der ‚metis‘ dar. Aber sie reichen noch viel weiter zurück, zu den uralten Intelligenzien, zu den Finten und Verstellungskünsten von Pflanzen und Fischen, Jägern und Landleuten. Vom Grund der Ozeane bis zu den Straßen der Megapolen sind die Taktiken von großer Kontinuität und Beständigkeit. In unseren Gesellschaften vermehren sie sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit.“ Ohne die Möglichkeit, den immer engmaschigeren Systemen zu entkommen, bleibe dem Individuum „nur noch die Chance, sie immer wieder zu überlisten, auszutricksen – Coups zu landen“.
Im Endeffekt geht es dabei um „Lebenskunst“, wobei die partisanischen Tugenden und Taktiken dazu dienen, im Dschungel der Interessen und Informationen individuell zu bestehen und sogar erfolgreich zu sein.
Der Wissenshistoriker Michel Foucault dachte 1988 vielleicht an Ähnliches: „Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der Bereich von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jedes Individuums ein Kunstwerk sein?“ Wenn man es mit den Augen von Certeau betrachtet, dann ist es das schon lange – im Verborgenen. Aber nun braucht es weitere Anstrengungen, um sich nicht bloß unter staatliche Maßnahmen zu ducken.
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