: Leben in Tativille
Vor zwanzig Jahren starb Jacques Tati, der Erfinder des sympathischen Monsieur Hulot. Sein Film „Playtime“ parodierte die Architektur der Moderne – und war in Frankreich die Kinosensation dieses Jahres
von NINA MAYRHOFER
Geschäftiges Treiben, lautes Tuten und Gedröhne, Autos, die an einem vorbeisausen, Glasbauten, die an den Wolken kratzen. Das ist unsere Bilderbuchvorstellung von einer modernen Stadt. Strukturiert vom Stadtbau und der Architektur, bewegt sich der Strom der Massen wie nach Drehbuch im Rhythmus eines Bienenschwarms durch ihre Straßen. Wir wohnen in einheitlichen Vitrinen und tragen unseren minimalistischen Chic zur Schau. Alles ist ein wenig unbehaust, Orte spontaner Begegnung gibt es kaum. Oder etwa doch?
Tativille wäre so eine Stadt. Gläsern, klinisch und entindividualisiert: das ist die Vision eines futuristischen Paris in Jacques Tatis Film „Playtime“ aus dem Jahr 1967. Der Film, als rekonstruierte Fassung im ursprünglichen 70-Millimeter-Breitwandformat in Frankreich kürzlich triumphal wieder aufgeführt, ist an Gigantomanie kaum zu übertreffen. Eigens für ihn errichtet, schoss nahe Paris eine Kulissenstadt aus Wolkenkratzern in die Höhe.
1.200 Quadratmeter Plexiglas für Hochhausattrappen, dreimal so viel Kunststoff und fünfzigtausend Kubikmeter Zement wurden herangeschafft, um Tativille zu bauen. Auf einem Areal von fünfzehntausend Quadratmetern entstand die durchdesignte Stadt der Zukunft. Ausgestattet mit voll funktionstüchtigen Fahrstühlen und Rolltreppen, Leuchtschildern und einem Drugstore, war die Kopfgeburt einer amerikanisierten Metropole komplett. Eine kritische Anspielung auch auf den damals entstehenden Gare Montparnasse und die Trabantenstadt Sarcelles mit ihren kalten, blockigen Wohnbauten. Tatsächlich erinnern die Gebäude von Tativille an „La Défense“, das neue Geschäftsviertel von Paris. Jacques Tati selbst meinte, er habe das Viertel schon vor seinem Bau filmisch karikiert. Ironie der Geschichte: Das Filmset zu „Playtime“ entwarf Jacques Lagrange, der später die ersten Entwürfe zu „La Défense“ erstellte.
Aber was wäre Größe ohne den Kontrast der kleinen Details? Bei Tati muss man schon genauer hinsehen. Oder noch besser: hinhören. Wenn Tatis filmisches Alter Ego Monsieur Hulot seinen Schirm in der Abflughalle fallen lässt, ist das kein zufälliges Ungeschick, sondern Anlass für eine charmante Parodie auf die strikten Regeln der hypermodernen Nichtorte. Laut echot das Scheppern des Schirms in der Halle. Das Fremdgeräusch zwischen den tonlosen Lautsprecheransagen lenkt die Aufmerksamkeit auf Hulot. „Fallen lassen verboten, so haben wir Architekten das nicht geplant“, heißt das Klackern des Schirms auf den Fliesen.
In „Playtime“ sind der Pariser Flughafen Orly, ein Bürogebäude, ein Supermarkt und eine Ausstellungshalle für 24 Stunden das Spielfeld einer Touristengruppe. Austauschbare Plätze, die sich in jeder westlichen Metropole befinden könnten. Kühl, hochglanzpoliert und eintönig ist das uniforme Bild. In diesem Businessviertel bleibt für Begegnungen anfangs wenig Raum. Der rechtwinklig funktionalistische Bauhausstil weist den Weg. „Es gibt Charaktere, die Gefangene der modernen Architektur sind, weil die Architekten sie zwingen, immer auf einer Geraden zu gehen“, erklärte Tati das rege und undurchschaubare Hin und Her der Akteure. Klack, klack. Gleichmäßige Schritte von Herrenschuhen auf polierten Steinböden. Dumpfes, wattiges Verschlucken von Stöckelschuhgeklicke auf weichem Teppich. Jede Person, jedes Material hat hier seinen Ton. Im Laufe des Films beginnen die Charaktere sich ihren Weg zurechtzubiegen. Bis alles in chaotisches Drehen und Kreisen übergeht.
Doch irgendwann kommt es doch zu Zusammentreffen und Begegnungen in einem Restaurant. Da erklärt Monsieur Hulot einem angetrunkenen Barbesucher den Stadtplan und benutzt mühelos die gesprenkelte Marmorsäule als Fortsetzung des Straßennetzes. Nun ist klar, jeder bahnt sich allmählich seinen eigenen Weg; Stimmung kommt auf.
Im Ton liegt der Humor. Kein richtiger Dialog, nur eine Klangwelt aus Geräuschpartitur und zusammenhanglosen Gesprächsfetzen bilden den Grundtenor. Jacques Tati lässt lieber die ultramodernen Apparate und Dinge sprechen. Flutsch. Ein Ledersessel ploppt zeitverzögert wieder in Form. Und macht das Warten und die Leere einer gläsernen Empfangshalle zum Sound. Verlassen, luftig und lautlos ist Tatis Horrorvorstellung der Moderne. Kontrastreich, verspielt und bunt dagegen das Traditionelle.
In der postindustriellen Wirklichkeit von heute muss man schon früh aufstehen, um eine stumme Stadt vorzufinden. Durchzugsgebiete oder Nichtorte wie Flughäfen und Shopping-Center werden mittels dramaturgischer Inszenierungen mit Leben gefüllt. Geräuschkulissen, genauestens getimte Stimmungs- und Farbspiele und flimmernde Bildprojektionen an den Mauern und auf Schaufenstern.
Tatis Kritik an der Uniformität und dem blank polierten Glanz der industriellen Großstädte versinkt heute im „electronic buzz“ der Leuchtreklamen, hinter denen die Architektur kaum noch hervorlugt.
Anders noch zu „Playtime“-Zeiten. Kreisen, drehen, verwirren. Der gerade aus dem Lokal geworfene Trunkenbold lässt sich von einem Lichtpfeil wieder ins Lokal leiten. Sirr, surr, einmal im Kreis herum getanzt – schon ist er wieder drinnen. Wo Tati Licht und Farbe einsetzt, um Leben, Wärme und Individualität zu skizzieren, sind es gerade diese Elemente, die New York, London und andere Metropolen dieser Tage tapezieren und global vereinheitlichen.
Die Wände in Tatis City sind transparent, aber Innen- und Außenräume bleiben tonal getrennt. Schaukastenartige Wohnboxen mit freizügigen Fensterfronten gewähren tiefe Einblicke in private Familienszenen – wie in Hitchcocks „Fenster zum Hof“ dem Voyeur ausgestellt. Der Familienvater nippt heimlich an der Brandyflasche. Wrumm, der Bus fährt vorbei. Die Geräusche der inneren Szenerie bleiben verborgen. Architektur wird in „Playtime“ zur unsichtbaren Barriere. So manche Nase stößt auf Glastüren, Spiegelbilder lösen Verwirrung aus. Die Touristen bekommen das historisch gewachsene Paris nur vermittelt zu sehen: eine Reflexion des Eiffelturms in der Glastür, eine Abbildung von Sacre-Coeur auf einem Kopftuch.
Parallel zur Wiederaufführung von „Playtime“ widmete sich eine Ausstellung in Paris Jacques Tati als promoteur immobilier, als Förderer der Architektur. „La ville en Tatirama“, demnächst in Rotterdam zu sehen, zeigt Architektur und Leben der Nachkriegszeit in Frankreich und erinnert zugleich an Tatis Werk. Das urbane Leben und die Funktionen der Stadt nach Le Corbusier – Arbeit, Wohnen, Verkehr, Entspannung sowie der Umgang mit dem historischen Erbe – zeigen sich besonders in „Playtime“. Vergangenheit findet sich hier als Designelement: Da entpuppt sich eine griechische Säule als Mülleimer, drückt man nur an der richtigen Stelle.
Knöpfchendrücken, das ging auch in der Pariser Ausstellung. An einem detailgetreuen Modell der „Villa Arpel“ aus Tatis oscargekröntem Film „Mon Oncle“. Betätigte man einen kleinen Schalter, kam Leben in die Bude und so manche Filmszene in Erinnerung. Erster Knopf: plätscher. Der Minifischbrunnen spuckt Wasser, das metallene Eingangstor öffnet sich mit einem Surren. Schon glaubt man die Nachbarin mit ihrem Strohhut und dem ausgefallenen Textilkostüm an der Tür stehen zu sehen. „Danke, aber wir kaufen keine Teppiche.“ Zweiter Knopf, lautes Hundegebell. Schon hat der Hund die Lichtschranke des Garagentors betätigt. Eingeschlossen ist das Ehepaar Arpel.
Ob die Ironie des Modells den Kuratoren bewusst war? Die ist schließlich das Spezialgebiet von Jacques Tati. Im Frankreich des wirtschaftlichen Aufschwungs und Futuroptimismus fand dessen Kritik am modernen Städtebau wenig Resonanz. An den französischen Kinokassen der späten Sechzigerjahre war „Playtime“ ein Flop, durch den Tati an den Rand des Ruins geriet.
Der kommerzielle Fehlschlag hatte aber auch technische Gründe. Fraß das gigantische Projekt schon während des Drehs und der Entstehung Unsummen, war auch das Endprodukt nicht leicht auf den Markt zu lancieren. Es existierten kaum Kinos, die das 70-Millimeter-Format abspielen konnten. Kopien im gängigen 35-Millimeter-Format zu ziehen, das wiederum widersprach der kinematografischen Vision des Regisseurs. „Ich frage einen Künstler ja auch nicht, warum er denn ein ganzes Blatt Papier zum Zeichnen verwendet“, empörte sich Tati.
Auf den heutigen Zuschauer wirkt dessen ironische Vision einer komplett durchorganisierten Stadt eher einnehmend, so wenig linear erscheint unsere eigene Zeit. Der Takt der industrialisierten Welt ist einem unausgesetzten Durcheinander gewichen. Jacques Tati bleibt nicht so sehr als Architekturkritiker in Erinnerung, sondern als Darsteller, als Regisseur und als Schöpfer von Monsieur Hulot. Sein feinsiniger Humor und sein Spiel mit Farben und Tönen laden ein, seine Filme wieder und wieder zu sehen. Jedes Mal gibt es neue, liebenswerte Details zu entdecken. Fühlen wir uns nicht längst vollkommen heimisch in Tativille?
NINA MAYRHOFER, 24, kommt aus Wien und lebt in Berlin. Derzeit arbeitet sie als Creative-Village-Praktikantin im taz.mag
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