Leben in Marzahn (Teil 1): Platte Attitüden
Marzahn ist für viele Berliner das Synonym für Ghetto und sozialen Abstieg. Doch wie lebt es sich in Marzahn? Die taz ist in die Platte gezogen und blickt hinter die Fassade.
ERSTER TAG
8 Uhr Frühstück zu Hause auf dem Balkon, bei strahlender Sonne, obwohl es draußen noch kühl ist. A. ist aufgeregt, denn heute muss sie nicht in die Kita.
9.30 Uhr Wir biegen in die Landsberger Allee ein. „Guck mal“, ruft A., „die Häuser sind schön. Lila und rosa.“ Doch nach zehn Minuten lässt das Interesse nach, und ich versuche, ihre Aufmerksamkeit auf die Margeriten und den Klatschmohn am Straßenrand zu lenken, der so schön leuchtet.
10 Uhr Die Mehrower Allee ist eine vierspurige Straße im Norden Marzahns, die fast ausschließlich von Elfgeschossern gesäumt wird. Sie wirken wie eine kahle Wand. Wir wollen die Schlüssel bei der Degewo abholen, für eine möblierte Ferienwohnung im Plattenbau. Die Degewo hat in letzter Zeit verstärkt mit ihrem Projekt „kostenloses Probewohnen“ geworben. Sie will junge Familien anlocken. Solche wie uns. Von der Mitarbeiterin bekommen wir Gummibärchen und Tipps, was man in Marzahn so unternehmen kann.
11.15 Uhr Ankunft auf dem Parkplatz eines pastellgelben Zehngeschossers in der Märkischen Allee. Etwas bang schließen wir die Wohnung im ersten Stock auf – und sind erleichtert: Die Einrichtung erträglich, das Bad schicker als unseres. Und die praktische Bar in der winzigen Küche wird sofort als Kletterfelsen identifiziert. Fenster auf: Es ist leiser als erwartet. Die Parkbuchten zwischen Straße und Haus und das viele Grün dazwischen halten viel ab. Gleich schon wieder los. Wir haben Hunger.
11.45 Uhr Hier, am Springpfuhl, muss A. erst einmal ein wenig herumspringen. An diesem Ort wurden 1977 die ersten Wohngebäude der Großsiedlung Marzahn fertig, die, so die Offiziellen der DDR, die „Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990“ lösen sollte. Der Helene-Weigel-Platz, der am 1. März 1978 eingeweiht wurde, weckt zum ersten Mal das Gefühl, tief im Osten zu sein, weit weg von zu Hause, von Prenzlauer Berg. Er erinnert mich an einen langweiligen Urlaub in Prag Anfang der Neunziger in einem Vorort voller Platten. Lost in Translation, zehn Kilometer entfernt von den lieben Gewohnheiten.
Alles ist braun in braun: Das ehemalige Rathaus von Marzahn, das 1988 fertig wurde, wirkt wie eine Miniversion des Palastes der Republik – kein Wunder, die Gebäude wurden vom selben Architekten erbaut. Das Rathaus wird als Bürgerhaus genutzt. Es gibt auch einen Brunnen, der sich über mehrere Terrassen ergießt. Die Bänke um ihn herum stehen verlassen da.
12.25 Uhr Wir gehen einkaufen im Kaiser’s. Es gibt deutlich weniger Bioprodukte als sonst. Auch hier sind kaum Leute unterwegs, ein paar Bauarbeiter, die sich eine Fleischwurst zur Pause holen; Hausfrauen, wie man sich Hausfrauen vorstellt: in Caprihosen, bügelfreien Blusen und mit rosa lackierten Fingernägeln. Eine greift gerade nach einem Becher Grafschafter Goldsaft. In ihrem Wagen liegen bis jetzt: Rahmspinat und Buttergemüse, drei Tiefkühlpizzen mit Salami, Scheibletten, Schogetten und eine Gurke aus Holland.
Das kommt bei uns rein: Obst, Tomaten, Brezeln und Wiener an der Theke. Die freundliche Fachverkäuferin mit roten Wangen kommt sofort ins Plaudern: Sie wohnt nicht in Marzahn und kann es auch nicht verstehen, warum sie das sollte. Wenn man es schon so weit hat in die Stadt, sagt sie, dann kann man auch gleich richtig rausziehen. Sie ist in Blumberg geboren und hängen geblieben, sagt sie, hat da einen reichen Mann geheiratet und jobbt an der Wursttheke ein bisschen fürs Taschengeld. Blumberg ist ein hübsches Brandenburger Dörfchen, 15 Autominuten entfernt, es gibt da sogar einen Lenné-Park.
12.45 Uhr Raus aus dem Supermarkt, vorbei an einer Handvoll Marktstände, die zur Hälfte von Vietnamesen betrieben werden und wo man günstig Gemüse, karierte Hausschuhe und bunte Handtücher mit Kätzchen- und Pferdemotiven erwerben kann. Ich sehe jetzt vor allem alte Leute, Rentner in Beige und Grau. „Hallo Ursel“, sagt die eine zur anderen. „Lang nicht gesehen. Was machste?“ Ursel antwortet: „Ich will mal nach neuen Puschen gucken. Otto braucht neue.“
Wir schlagen uns Richtung Springpfuhlpark durch: Eine grüne Insel mit Ententümpel, weichem Rasen, Trauerweiden. Ein Innenhof in der Größe eines Parks.
13 Uhr Picknick mit Blick auf hohe Häuser. Ein Mann jenseits der sechzig kommt vorbei, nur mit Not kann er seinen wolligen Hund davon abhalten, uns alle Wiener wegzufressen. Lissi kommt aus Spanien, entschuldigt sich der Mann. Sie hat dort auf der Straße gelebt.
Herr N. ist letztes Jahr siebzig geworden. Er war Ende dreißig, als er 1979 in den Bezirk zog, der zu dieser Zeit gerade entstand. Damals zog er in einen Zehngeschosser in der Allee der Kosmonauten. Ein toller Name für eine Straße, findet auch Herr N. Er teilte die Begeisterung der Nachbarn, berichtet er. Es sei eine Erlösung gewesen, aus den Berliner Altbauwohnungen mit Kohleofen und Außenklo rauszukommen.
Herr N. hat den Pioniergeist miterlebt, und dieser Geist hält ihn bis heute hier. Da lag überall Bauschutt herum, überall waren Schlammwege, sagt er. Seine freundlichen Augen leuchten. Die Marzahner haben sich ihren Bezirk erarbeitet, so seine Theorie. Weil zu Beginn vieles so unfertig war, legten die Bewohner ihre Vorgärten selbst an. Auch Herr N. hat viele Bäume im Springpfuhlpark gepflanzt.
Geschichte: Der Ort "Mortzane" wird erstmals um 1300 in einer Urkunde erwähnt. Um 1900 lebten 700 Menschen in dem Dorf, das
bis heute, wenn auch nostalgisch überformt, erhalten ist. In den Siebzigern wurden die ersten Neubauten errichtet, es entstand die größte Großsiedlung der DDR. Auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung erfolgte 1979 die Gründung des Stadtbezirks. 2001 fusionierte Marzahn mit dem benachbarten Hellersdorf. Der neue Bezirk umfasst die Ortsteile Marzahn, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Hellersdorf.
Bevölkerung: Der Ortsteil Marzahn ist 19,5 Quadratkilometer groß. Ende 2011 wohnten dort 103.768 Berliner, darunter 16.666 Menschen mit Migrationshintergrund und davon 5.807 Ausländer. Die große Mehrheit der Migranten (59 Prozent) wanderte aus der Sowjetunion ein, insbesondere aus Russland und Kasachstan. Aus
EU-Ländern stammen 2.434, aus Vietnam 2.320 Marzahner.
„Und wie fühlt es sich heute an in Marzahn, Herr N.?“
„Ich kann meinen Kiez nur empfehlen“, sagt er mit fester Stimme.
„Würden Sie uns empfehlen, herzuziehen?“
„Jeder kennt hier jeden“.
„Wirklich?“
„Wirklich.“
Herr N. denkt nach. „Und ich habe auch keine Probleme mit den Ausländern gehabt.“
„Hier gibt es auch nicht so viele Ausländer.“
„Doch, schon. Es gibt viele aus Vietnam und aus Russland.“
„Und welche sind Ihnen lieber?“
„Die Vietnamesen. Die sind ja unauffällig, so still, und ihre Kinder so strebsam.“
„Und die Russen?“
„Da sind in letzter Zeit viele hergezogen. Die haben manchmal Probleme mit dem Alkohol. Aber ich komme ganz gut mit denen klar.“
Herr N. zuckt mit den Schultern. „Es ist schön hier. Ich fühle mich wohl.“ Er schaut zu seinem Hund, der gerade das Gesicht meiner Tochter ableckt. „Kommen Sie doch mal mit, ich zeige Ihnen meine Wohnung. Die wird demnächst frei, wir ziehen ein Stockwerk höher.“
Herr N. ist stolz auf seine Wohnung, denn auch hier hat er viel selbst gemacht. Sie ist wirklich hübsch, hell, auch nett eingerichtet, mit Flickenteppichen und Korbmöbeln. Er zeigt uns die Küche, die er größer gemacht hat, damit man drin sitzen kann. Und die hölzernen Türrahmen, die er hat anfertigen lassen, denn ursprünglich schlossen die Türen in diesem Haus auf nacktem Beton. Herr N. stellt sich an den Herd und kocht uns einen großen Topf Kakao.
15.15 Uhr Noch ein, zwei Stunden auf dem Spielplatz. Ein paar Kinder zwischen fünf und acht spielen sehr nett und rücksichtsvoll miteinander, ganz ohne Eltern. Irgendwann kommt eine Blondine um die dreißig dazu und schleudert erst die beiden Töchter, dann auch die anderen Kinder durch die Luft. Großes Hallo.
Wir gehen weiter, genießen die wilde Natur, die überall wuchert. A. entdeckt zwei Marienkäfer. Ich finde eine wilde Wiese mit vielen seltenen Kräutern wie Frauenmantel. Ein dicker Zehnjähriger mit viel Gel im Haar schlägt sich rasch in die Büsche, als wir vorüberschlendern, denn er wollte eine goldene Blume an ein Stromhäuschen sprayen.
18 Uhr Wir holen B. vom S-Bahnhof Springpfuhl ab und kaufen noch einmal fürs Abendessen ein. Die Erdbeeren vom Marktstand kosten jetzt einen Euro die Schale. Eine Frau in engen Jeans zieht ihren störrischen Jungen hinter sich her wie einen Rollkoffer. Auf der Bank vor dem Brunnen sitzen ein paar Männer um die fünfzig mit je einer Pulle Bier. Die Bibliothek gegenüber hat noch geöffnet, aber es sind nur drei Besucher drin.
Teil 2 des Tagebuchs erscheint am Samstagmorgen auf taz.de/berlin
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