Leben in Kosovo: Tanzen gegen die Enge
Zehn Jahre nach der Unabhängigkeit ist Kosovo das isolierteste Land des Westbalkans. Teuta Krasniqi bringt ihre Sehnsüchte auf die Bühne.
Der Ort, an dem Kosovos Nationalballett trainiert, ist ein bisschen wie das Land, das es repräsentiert: klein und provisorisch. Ein Land, das zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer nicht von allen EU-Mitgliedsländern anerkannt wird. Und das von seinem Nachbarn Serbien als abtrünnige Provinz angesehen wird.
Ein Land, dessen Hymne zwar eine Melodie, aber noch immer keinen Text hat, weil man sich nicht einigen kann, ob auf Serbisch, Albanisch oder Englisch gesungen werden soll. Ein Land, dessen Bevölkerung als einzige in Europa nicht visafrei in den Schengenraum reisen darf und sich deswegen isoliert und eingesperrt fühlt.
Heute Abend will Teuta Krasniqi, 28 Jahre alt, eine zierliche Frau mit dunklen Haaren und rot geschminkten Lippen, all diese Gefühle auf die Bühne bringen. Die Anspannung ist ihr anzusehen. Leicht zusammengekauert sitzt sie auf einer Bank im Spiegelsaal und wirft ihrem Team ab und zu ein Lächeln zu, das ein bisschen gequält wirkt.
Durchschnittseinkommen: 300 Euro
Krasniqi ist die erste kosovarische Frau seit Errichtung des Theaters 1947, die hier ihr eigenes Ballettstück auf die Bühne bringt. Der Titel des Stücks: „No Walls“. Keine Mauern. Es sind noch knapp drei Stunden bis zur Premiere.
Das Theater, in dem Krasniqi mit ihren Tänzern übt, ist ein architektonisches Überbleibsel aus der Zeit Jugoslawiens: holzvertäfelte Räume, in denen man rauchen darf, rote Samtsessel und verwinkelte Gänge. Es liegt im Zentrum der Hauptstadt Prishtina, gegenüber vom Regierungsgebäude, einem spiegelverglasten Büroturm, der in diesen Tagen in eine überdimensionale Fahne in Blau und Gelb gehüllt ist, zu Ehren des Unabhängigkeitstages am 17. Februar.
Krasniqi will über die Feierlichkeiten aber nicht die Gegenwart vergessen. „Jedes Jahr, seit wir unabhängig sind, hoffen wir, dass sich die Situation hier verbessern wird – aber die jungen Menschen finden keine Jobs, obwohl sie ein fertiges Studium haben“, erzählt sie auf einer Gymnastik-Matte im Ballettsaal.
Sie selbst steht beim Nationalballett unter Vertrag. Das Gehalt ist aber so niedrig, dass sie noch immer nicht aus der Stadtwohnung ausgezogen ist, die sie sich mit Mutter, Geschwistern und Stiefvater teilt. Andere Tänzer aus ihrem Team, die bereits Kinder haben, müssen nebenher einen zweiten Job annehmen. Das Durchschnittseinkommen in Kosovo beträgt 300 Euro. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 65 Prozent.
Wer jemanden aus der politischen Elite kennt, findet leichter einen Job. Die größte Einkommensquelle bleibt aber die Diaspora, also Familienmitglieder im Ausland, die ihren Geschwistern, Cousins oder Eltern ein paar Hundert Euro im Monat überweisen. Jährlich gelangt auf diese Weise eine Milliarde Euro in den Kosovo.
Wenn Krasniqi die letzten zehn Jahre Revue passieren lässt, fällt ihr vor allem das Wort „Blockade“ ein. „Einmal wurde ich zu einem Workshop nach New York eingeladen. Ich hatte mich so darauf gefreut. Aber dann wurde mein Visum abgelehnt und ich musste absagen“, erzählt sie. Es macht sie traurig, dass immer mehr Menschen Kosovo auf illegalem Weg verlassen.
2015 fand eine Art Exodus aus dem Land statt. Bis zu Hunderttausend Menschen sollen die Flucht ergriffen haben. Sie flohen vor Armut, Korruption, fehlenden Perspektiven. Ein Ereignis hat Krasniqi besonders erschüttert. 2009 ertrank eine Gruppe von Kosovo-Albanern bei dem Versuch, den Fluss Theiß an der ungarischen Grenze zu überqueren. „Hätten wir Visa-Freiheit, wäre das nicht passiert“, sagt sie.
Krasniqi hat es geschafft, ohne politische Kontakte Karriere zu machen. Als sie 16 Jahre alt war, fiel ihr Talent dem Direktor des kosovarischen Nationalballetts auf. Ahmet Brahimaj, 69, war während der siebziger Jahre selbst Tänzer und hat sich nach dem Krieg zum Ziel gesetzt, die junge Generation auszubilden. Für ihn ist Krasniqi eines der größten Talente des Landes.
Nach dem Krieg
Ahmet Brahimaj ist fast so alt wie das Theater, das 1947 errichtet wurde. Die Fotos an den Wänden erinnern an die Zeit, als er einer der ersten Balletttänzer Kosovos war und Auftritte in ganz Jugoslawien hatte. Damals trug Brahimaj enge Sportanzüge, hatte eine athletische Figur und lange Haare. Heute spannt sich das Hemd über seinen Bauch, er hat kräftige Arme und raue Hände.
Brahimajs Karriere ging 1991 abrupt zu Ende. Die Gründe dafür sind ein Stück Zeitgeschichte. Mit dem Zerfall Jugoslawiens und den Unabhängigkeitsbewegungen in Slowenien, Kroatien und Bosnien wurde auch in Kosovo der Wunsch laut, die Provinz vom ehemaligen Vielvölkerstaat abzutrennen. Doch der damalige serbische Staatschef Slobodan Milošević ging mit Repressionen dagegen vor. In den Neunzigern verloren Kosovo-Albaner ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Autonomierechte.
Hunderttausende Albaner wurden gekündigt. Fußballspieler mussten ihre Teams verlassen, Lehrer ihre Schulen, Politiker das Parlament und Brahimaj sein Theater. „Es ist nicht einfach, wenn dir jemand deine Bühne nimmt“, sagt er. In Gedanken habe er das Theater, das die ganzen Neunziger über leer stand, niemals verlassen.
Viele Tänzer flohen damals ins Ausland. Brahimaj fand in Kanada Zuflucht, wo man ihm einen Job als Tänzer anbot. Er lehnte ab und kehrte nach dem Krieg zurück nach Kosovo. Dort trommelte er sein altes Ensemble zusammen, das damals vorrangig aus Männern bestand, jeder Einzelne schwer gezeichnet vom Krieg.
„Obwohl wir alt waren, zum Teil schon über 50 Jahre, haben wir noch ein letztes Mal auf der Bühne getanzt. Es war unsere Rückkehr. Die Menschen im Publikum haben geweint. Das letzte Mal, als sie uns tanzen gesehen hatten, waren wir noch vergleichsweise junge Männer gewesen“, erinnert er sich.
Für Brahimaj erzählt „No Walls“, Krasniqis Choreografie über die Perspektivlosigkeit der Jüngeren, deshalb auch seine Geschichte. „Die Wände, um die es geht, sind nicht neu. Sie waren schon in den Neunzigern da, als man den Albanern verboten hat, ihre nationalen Stücke aufzuführen.“
Heute ist es aber nicht der ethnische Konflikt zwischen Serben und Albanern, an dem die junge Generation verzweifelt, sondern die innenpolitische Krise. Derzeit ist eine Regierung an der Macht, die vermutlich einmal als die aufgeblähteste in die Geschichte eingehen wird: 17 Parteien, 22 Minister, 70 Vizeminister.
Der neue Premierminister Ramush Haradinaj, Ex-Kommandant der albanischen Guerilla-Organisation UÇK, hat jüngst sein Gehalt auf 3.000 Euro verdoppeln lassen. Die rechtliche Grundlage für die Gehaltsverdopplung prüft gerade das Verfassungsgericht. Ob sie am Ende genehmigt wird oder nicht: Haradinaj hat damit gezeigt, dass es den Eliten vor allem darum geht, sich selbst zu bereichern.
Top-Thema Visa-Freiheit
Dazu kommt die eingeschränkte Reisefreiheit. Für Albanien und Bosnien wurde die Visapflicht im Schengenraum 2010 aufgehoben, für Serbien, Montenegro und Mazedonien 2009. Auch die Bürger der Republik Moldau, das ärmste Land Osteuropas, können ohne Visum in die Schengen-Länder reisen.
Teuta Krasniqi ist bewusst, dass sie als offizielle Staatstänzerin in einer privilegierten Situation ist, weil ihre Visa-Anträge schneller bearbeitet und in der Regel genehmigt werden. Sie weiß aber auch, dass es dem Rest der Bevölkerung nicht so geht. Überall werde über die Visa-Freiheit geredet. Es sei das Thema Nummer eins unter den Jungen.
Ihre Geschichten will Krasniqi eine Bühne bieten. Noch sind es zwei Stunden, bis sich der Vorhang heben wird. Sie hetzt zu den Garderoben, in der einen Hand ihr Smartphone, in der anderen eine Schokoladenschachtel als Dank für das Engagement ihrer Tänzer.
In den Garderoben sind die Duschen kaputt, das Neonlicht über dem Spiegel ist das einzige Licht im Raum. Die Stimmung ist trotzdem gut. Die Tänzerinnen, die ihre Wimpern tuschen, singen albanische Popsongs. Immer mal wieder kommt einer der Tänzer aus der Männergarderobe vorbei, um sich Haargel oder Puder auszuborgen. Die aufgeregte Stimmung vor einer Premiere ist für die Ballettgruppe Routine. Sie hat häufig Auftritte im Ausland.
Für jene in Kosovo, die weder Sportler noch Künstler oder Politiker sind, bleibt die Ausreise ein bürokratischer Kampf, der oft Monate, manchmal ein halbes Jahr oder länger dauert. „In Prishtina werden aktuell Anträge angenommen, bei denen die Wartezeit auf den Termin vier bis elf Monate betragen hat“, heißt es aus dem deutschen Auswärtigen Amt.
Wer einen Termin bekommt, ist noch nicht fertig. Die Bearbeitungszeiten des Antrags schwanken sehr stark, von einigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Die jungen Kosovaren legen Mappen an, um nicht den Überblick über all die Dokumente zu verlieren, die sie brauchen: Krankenversicherung, Einladungsschreiben auf Deutsch oder Englisch, Kontoauszüge der letzten sechs Monate et cetera.
Von allen Seiten hört man, wie entwürdigend und kräftezehrend diese Bürokratie sei. Dabei ist die Europäische Union in keinem Land des Westbalkans so beliebt wie in Kosovo. Das hat jüngst das Balkan-Barometer 2017 bestätigt: 90 Prozent der Befragten halten die EU für eine „gute Sache“. In Serbien sind es nur 26 Prozent. Paradoxerweise ist Kosovo auch das Land, in dem die meisten Menschen damit rechnen, bald EU-Mitglied zu werden.
Dabei ist Kosovo das einzige Balkanland, das noch keinen EU-Beitrittsantrag stellen durfte. Das Ansehen der EU leidet aber gerade, weil die europäische Gemeinschaft den Jungen keine Perspektive bietet. Fitore Pacolli, 36, Abgeordnete der linksnationalistischen Oppositionspartei Vetëvendosje, hat selbst sechs Jahre in London studiert. Sie weiß, wie wichtig das Reisen für junge Menschen ist. Das erzählt sie an einem regnerischen Nachmittag in einem Café im Zentrum von Prishtina. Pacolli, eine junge Frau mit Kurzhaarfrisur, Hosenanzug und giftgrünem Mantel, kommt gerade von einer Parteiveranstaltung.
Die EU und Kosovo im Dialog
Ihre Partei Vetëvendosje, die von der internationalen Gemeinschaft lange nicht ernst genommen wurde, ist aus der letzten Wahl als stärkste Kraft des Landes hervorgegangen. In der Regierung ist sie trotzdem nicht, was für Pacolli ein Beweis dafür ist, wie machthungrig die Elite des Landes sei. „Sie fürchten sich vor uns, weil wir mit Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen würden.“
Protektorat Nach Ende des Kosovokrieges 1999, beendet durch Nato-Bombardements auf serbische Ziele, wird Kosovo ein Protektorat von USA, UNO und EU.
Unabhängigkeit Am 17. Februar 2008 erklärt das 1,8-Millionen-Einwohner-land seine Unabhängigkeit. Heute wird Kosovo von 114 der 193 UNO-Mitgliedsstaaten anerkannt. Fünf EU-Staaten erkennen Kosovo immer noch nicht an: Slowakei, Zypern, Griechenland, Spanien und Rumänien. Warum? Sie wollen den Sezessionsbestrebungen im eigenen Land keine Legitimität geben.
Pacolli wollte früher einmal Lehrerin werden. Als sie in England lebte, wo ein Teil ihrer Familie noch heute wohnt, nahm sie an Studentenprotesten gegen den Konservativen David Cameron teil. Dann kehrte sie zurück, um Politik zu machen. In fehlerfreiem britischem Englisch fragt sie: „Wie sollen wir die Zukunft Kosovos verändern und die aktuelle Politik kritisch hinterfragen, wenn man uns nicht von der Situation in anderen Ländern Europas lernen lässt?“
Seit mittlerweile sechs Jahren führt die EU mit Kosovo einen sogenannten Visa-Dialog. Zwei letzte Kapitel fehlen noch, um ans Ziel zu kommen. Das ist erstens die Ratifizierung eines Grenzabkommens mit Montenegro – und zweitens die etwas schwammige Forderung nach der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität. Der Grenzstreit mit Montenegro ließe sich mit einer einzigen Abstimmung im Parlament erledigen, doch Vetëvendosje stellt sich quer.
Das macht die Politik der Linksnationalisten auch so widersprüchlich. Einerseits wollen sie für ihre jungen Wähler da sein und ihre Lebensumstände verbessern. Andererseits blockieren sie ihren Traum, indem sie Tränengaskapseln im Parlament zünden, um die Ratifizierung des Abkommens zu verhindern.
Das Stück „No Walls“
Der Streit spaltet das Land in zwei Lager: jene, die sagen, dass die Grenze mit Montenegro fair verhandelt wurde. Und jene, zu denen Vetëvendosje zählt, die eine nationalistische Kampagne gegen die Regierung fahren und ihr vorwerfen, Land leichtfertig zu „verschenken“. Und so scheitert die Visa-Freiheit in Kosovo an zwei Dingen: einer Oppositionspartei, die einer Grenzziehung nicht zustimmen will – und einer Regierung, die nicht bereit ist, die Korruption im Land einzudämmen.
Noch 60 Minuten bis zum Auftritt der Ballettgruppe. Langsam legt sich die Dunkelheit über Prishtina. Am Boulevard gehen die Straßenlaternen an, geschmückt mit Ballons und Bannern in den Staatsfarben. Im Theatersaal lassen sich die Gäste nieder.
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Dort, wo eigentlich das Orchester sitzt, wurde ein Bretterboden verlegt, damit die Tänzer mehr Platz haben. Für die Restauration der Bühne fehlt seit Jahren das Geld. An den Besucherzahlen ändert das aber nichts. Alle samtroten Sessel sind besetzt.
Das Stück beginnt abrupt. Die Männer und Frauen kämpfen gegen unsichtbare Mauern, werden immer wieder von einer schwarz gekleideten Person zurückgezogen. Sie greifen sich an die Kehlen. Sie trösten einander im Paartanz, liefern sich einen Staffellauf, der mit Trommelwirbel unterlegt ist. Und sie winden sich am Boden, als hätten sie Schmerzen.
Sie tanzen nicht nur für die 300 Besucher, sondern stellvertretend für ganz Kosovo. Es ist eine Mischung aus klassischem Ballett und Ausdruckstanz. Die Musik ist meist bedrückend, blechern, fast klaustrophobisch. Am Ende erhebt sich der ganze Saal, klatschend und pfeifend. Teuta Krasniqi steht auf der Bühne und strahlt, in der Hand einen großen Blumenstrauß. So abstrakt und künstlerisch ihr Ballett auch war – im Publikum gibt es niemanden, der nicht verstanden hat, was sie damit ausdrücken wollte.
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