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„Lebe wohl, Deutschland“

Abschied in Würde – ein Abschied auf echt deutsch  ■ Von Gabriele Goettle

Wünsdorf, eine Autostunde südlich von Berlin, besteht aus der Ortschaft mit etwa 2.000 Einwohnern und der Garnisonsstadt gleichen Namens, die sich hinter Betonmauern und Stacheldraht auf einem 600 Hektar großen Gelände erstreckt. Zu DDR-Zeiten waren hier 40.000 bis 70.000 Soldaten stationiert.

Militär gibt es in Wünsdorf schon seit 1910. Den Soldaten des Kaisers folgten die der Reichswehr, dann übernahm die Wehrmacht, baute entsprechend aus und richtete sich mit geheimen Bunkersystemen und moderner Technik auf spezielle Aufgaben ein. Hier residierte später die Nachrichtenzentrale des kriegführenden Deutschland, und hier wurde die „Aktion Barbarossa“ geplant, der Vernichtungskrieg gegen den „Bolschewismus“, in dem 30 Millionen Bürger der Sowjetunion ihr Leben verloren.

In diese Garnison zog 1945 die Rote Armee ein. Wünsdorf wurde zum größten militärischen Hauptquartier außerhalb der Sowjetunion, von diesem Oberkommando aus wurden die in Ostdeutschland und der späteren DDR stationierten sowjetischen Truppen befehligt, wurden außenpolitische Interessen durchgesetzt; vom 17. Juni über den Mauerbau bis hin zur unerbittlichen Durchführung einer friedlichen Übergabe der DDR.

Seit mehr als drei Jahren wird von hier aus keine gefechtsbereite Armee mehr kommandiert, sondern der strategische und planmäßige Abzug der WGT, der Westgruppe der russischen Truppen. Ihr Oberkommandierender, Matwej Burlakow, der bereits die Truppenrückführung aus Ungarn gemanagt hat, verpfändete sozusagen sein Generalsehrenwort dafür, daß am 31. August 1994 kein russischer Soldat mehr auf deutschem Boden sein wird. Als letzter wollte er selbst ins Flugzeug steigen.

Im Rahmen der Gestaltung eines „Abschieds in Würde“ machte Bonn auch durch diese Rechnung einen dicken Strich. Die offizielle Verabschiedung wurde – obgleich die russische Seite ursprünglich einen Termin im Juni gewünscht hatte – auf den 31. August festgelegt. Abgelehnt wurde auch der Wunsch nach einer gemeinsamen Verabschiedung mit den Westalliierten. Der Platz Rußlands ist am Katzentisch reserviert. Abgelehnt auch der Wunsch nach einer feierlichen Verabschiedungszeremonie im Reichstag. Als angemessen erachtet Bonn nun einen knappen Staatsakt im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt; aber das auch erst, nachdem weder Geld noch gute Worte die Russen zu einer Verabschiedung in Weimar, mit gemeinsamem Besuch von Buchenwald, hatten bewegen können. Ersatzweise sieht das Bonner Protokoll nun in Berlin für Jelzin vor: Antreten und Kotau vor der Neuen Wache unter den Linden! Kohl hingegen wird aller Wahrscheinlichkeit nach an der Abschiedszeremonie vor dem sowjetischen Ehrenmal in Treptow – das immerhin das zentrale Denkmal für die in der Schlacht um Berlin gefallenen Befreier vom Faschismus und letzte Ruhestätte für Tausende von ihnen ist – aus verständlichen Gründen nicht teilnehmen können.

Der 8. Mai ist in der Bundesrepublik kein Feiertag. Insofern erübrigt sich eine dankbare Verabschiedung der Russen, zumal man sich mit den drei anderen Siegermächten herzlich über den Abzug der Russen freut, über diese zwangsläufige Konsequenz aus der bedingungslosen Kapitulation des Kommunismus. Im 49. Jahr nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands scheinen sich die Westalliierten – außer am D-Day – kaum noch zu erinnern, gegen wen sie im II. Weltkrieg gekämpft haben. In all diesem Durcheinander wechselt Deutschland die Kleider, stellt sich andere Papiere aus und nimmt eine neue Identität an. Von den Russen erwartet man nichts weiter, als daß sie zum vereinbarten Termin das besetzte deutsche Territorium besenrein übergeben.

Um nicht sang- und klanglos zu verschwinden, hat das russische Oberkommando zu einem Abschiedsfest eingeladen. Am 11. Juni stand die jahrzehntelang für Fremde verschlossene Garnisonsstadt gastlich allen offen. Eine „Parade der Erinnerung an die Eroberung Berlins“, Wehrsport, paradierende Regimenter, Tanzvorführungen, Balalaikagruppen, Gesang, Wodka, Speisen, freundliche Gesichter u.v.m. wurden den Gästen geboten. Das Fest stand unter dem Motto: „Lebe wohl, Deutschland“, aber damit wars nicht getan, 1.000 Mann hatten ein eigens für den Abschied komponiertes und getextetes Lied mit diesem Titel einstudiert und trugen es im Paradeschritt vor, begleitet von schmetternden Blasinstrumenten. Eine Strophe wurde sogar in deutscher Sprache gesungen, auch von Soldaten übrigens, die Kampfuniformen der Roten Armee aus dem II. Weltkrieg trugen. Mit rollendem R sangen alle: „Deutschland, wir reichen dir die Hand – und kehrn zurück ins Heimatland“.

Aber nicht von diesem Abschiedsfest soll die Rede sein (es ist in den Medien – bis hin zu einer Fernsehübertragung – wohlwollend darüber berichtet worden), ich will über die unbeachtet gebliebene Gegenveranstaltung berichten, das „deutsch-russische Volksfest“ im Ort Wünsdorf.

Wünsdorf ist ein Ort mit eigenem großem See und Uferpromenade, an der ein uneingezäuntes kleines Strandbad mit Holzstegen und Liegewiese die Wende überdauert hat; mit idyllischen Winkeln, öden Wohnkomplexen, schmuck herausgeputzten Siedlungshäuschen aus der Nazi-Zeit, mit Kneipen, Geschäften, Supermarkt – die alle guten Umsatz mit den abziehenden Offiziersfamilien machen –, man hat ein Bordell am Platz der Jugend, eine Kirche, einen stillgelegten Rat der Gemeinde und zwei Bahnhöfe: einen deutschen und einen russischen; auf letzterem geht allabendlich um 19.10 Uhr ein Zug voll winkender, melancholischer Russen ab.

Am 12. Juni, einem heiteren Sonntag, wurde das deutsch-russische Volksfest im kleinen Strandbad eröffnet. Landtagspräsident, Bürgermeister und Stellvertreter des Oberkommandierenden hielten salbungsvolle Reden, ein Polizeiorchester spielte auf und ein russisches Militärorchester, danach bildete das zahlreiche deutsch-russische Publikum Schlangen vor den diversen Imbiß- und Getränkeständen. Irgendwo drehte sich ein Kalb am Spieß, daneben gabs italienisches Eis. Das alles natürlich nur gegen D-Mark, teilweise zu gesalzenen Preisen. Auf der kleinen Bühne sorgten ein Clown, eine oberschlesische Volkstanzgruppe, Go-go-Girls in schwarzem Leder und ein sprücheklopfender Moderator fürs Kulturprogramm: „Na, was ist denn das für ein lahmer Laden, wir sind doch nicht auf einer Maikundgebung! Also Hände hoch und klatschen!“ Ein Dolmetscher namens Pawel übersetzte es höflicher – und zu all dem dröhnte die Diskomusik aus den Lautsprechern. Sangesfreudige russische Gruppen, die mit Wodka und harten Eiern etwas abseits im Gras saßen, ließen sich davon aber nicht stören.

Vor der Luke eines großen olivgrünen Feldküchen-Fahrzeuges wartete geduldig eine lange Menschenschlange auf die Ausgabe von Kascha, das ist gekochter Buchweizen mit etwas Schweinefleisch. Auf einem wachstuchbedeckten Tisch standen zur Selbstbedienung zwei bauchige Teekessel, Teegläser und Würfelzucker bereit. Ging etwas zur Neige, wurde es sofort nachgefüllt. Daß Schlangestehen auch Vorteile hat, davon konnte sich der ungeübte Westdeutsche hier überzeugen, russisch plaudernd, deutsch plaudernd und auch beides durcheinander probierend, rückten die Wartenden langsam vor, schenkten sich gegenseitig Tee ein und tauschten Zigaretten aus. Plötzlich gabs weiter vorn Unruhe, laute Stimmen waren zu hören. Ein sehr großer, dicker Mann rief: „Das ist doch eine Unverschämtheit, die Russen geben sich hier solche Mühe und dann wird das alles ins Lächerliche gezogen! Besonders Sie da hinten, mit dem komischen Gesicht ...“ Die Angesprochene entgegnete empört: „Das ist ein jüdisches Gesicht!“ Der Mann machte eine unwillige Handbewegung und korrigierte ärgerlich: „Das hat mit der Sache absolut nichts zu tun“, woraufhin die Frau ausrief: „Das hat sehr viel damit zu tun!“ Nun mischten sich die Umstehenden ein, Sprachkundige übersetzten ins Russische, man beschwichtigte. Auslöser war die seltsame kleine Gruppe von Leuten, zu denen auch die Frau gehörte,

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bestehend aus mehreren Männern, die mit blasierten Mienen auf Aluminiumkoffern saßen, das Funktelefon griffbereit in der Brusttasche, und einer schlanken, hochgewachsenen Frau in russischer Offiziersuniform. Mit den Stiefeln, der Pistole am Ledergürtel und der hohen Tellermütze über dem vamphaft geschminkten Gesicht wirkte sie wie die Karikatur einer Kommissarin. Sie war übrigens, mit Ausnahme der deutschen Polizei, die einzige waffentragende Person auf dem ganzen Fest. Daß es sich um eine Schauspielerin handelte, die vor echter Kulisse irgend etwas mimen sollte, war nicht auf Anhieb erkennbar. Das Filmteam verschwand bald, die Schlange beruhigte sich und wartete weiterhin geduldig auf Nachschub. Später erfuhr ich vom zuständigen Offizier, daß man 3.000 Portionen verteilt habe, dazu mehr als 1.500 Kastenbrote (von denen sich der geschulte ehemalige DDRler reichlich mitnahm, für Huhn und Schwein), dazu Hunderte von Litern Tee und massenweise Würfelzucker. Das alles wurde gratis verteilt, es ist so der Brauch gegenüber Gästen.

Historische Momente sind anscheinend oft ganz unscheinbar, man sitzt z.B. unter Bäumen, Buchweizen essend an einem Tisch, umgeben von anderen Essern in Uniform und in Zivil, Sonnenflecken spielen über die Kleider, ein Teeglas fällt zu Boden, ein Luftballon platzt, und doch ist es ein großer Augenblick.

So ähnlich empfanden wohl auch die russischen Offiziere und ihre Familien, die, größtenteils in Zivil, etwas abseits vom Rummel saßen. Ich war in der glücklichen Lage, kleine Interviews machen zu können. An meiner Seite befand sich ein hochkarätiger Dolmetscher, den der dramatische Moment aus persönlichen Gründen interessierte. Er war einst Professor an der Akademie der Wissenschaften, wurde abgewickelt und ist staunend abgestürzt ins soziale und materielle Nichts. Seitdem arbeitslos, beobachtet er, wie ihm das Wasser langsam bis zum Halse steigt. Wir näherten uns einer fröhlichen Tischgesellschaft, die gerade dabei war, mehrere Flaschen Wodka zu leeren. Zwei Offiziere, Ende Fünfzig, Anfang Sechzig, Major und Oberst, waren bereit, einige Fragen zu beantworten – rein privat, versteht sich. Seit drei Jahren sind sie da, und nun, nachdem sie die edle Arbeit der patriotisch-militärischen Pflichterfüllung beendigt haben, freuen sie sich auf eine baldige Rückkehr in die Heimat. Inflation, Wohnungsnot, Verarmung, politische Unsicherheit, Schwarzmeerflotte? „Njet Problem!“ Mein Begleiter ließ den förmlichen Optimismus nicht gelten, parlierte fließend, beharrlich, woraufhin man uns erst mal randvoll Wodka einschenkte, zur Feier des Tages. Nach einem kräftigen Schluck allerseits und einem Exkurs über die USA, die Rußland und die russische Seele weder verstehen noch vernichten können, sagte der Ältere: „Nicht die zweite Front hat den Krieg gewonnen, sondern die Rote Armee!“ Diesem kleinen Ausfall folgte eine Flut von blumigen, vaterländischen Ausführungen, von philosophischen Weisheiten und Bekenntnissen zur Demokratie. Der Jüngere meldete sich zu Wort: „Statistisch gesehen hat jeder vierte Armeeangehörige der 40.000 Wahlberechtigten in der Westgruppe Schirinowski gewählt. Das sollten Sie hier aber wissen: Vielleicht geschah das nur zur Erinnerung unserer regierenden Politiker daran, daß man uns etwas mehr Achtung entgegenbringt bei der Rückkehr ... denn immerhin sind wir die Armee!“, und der Ältere fügte hinzu: „Es wird einen würdigen Empfang geben, man wird uns drei Tage lang feiern, und dann können wir wieder freier atmen.“ Und plötzlich, nach einer kleinen Pause, eine kurze Frage – etwas konsterniert übersetzte mein Begleiter: „Sind die Deutschen immer noch böse mit uns, weil wir gesiegt haben?“ Noch bevor ich wahrheitsgemäß antworten konnte, legte der Fragende mir lachend seine Hand auf die Schulter, lobte die freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern, griff zum Wodka, um uns nachzuschenken, und löste eine Kettenreaktion aus: Dadurch, daß der Tisch kurz hintereinander dreimal umfiel, das Brot, die Tomaten, Gurken, Eier, Schaschlikreste, Gläser und Flaschen ins Gras rollten und nur die Vase mit den Pfingstrosen jedesmal von jemand anderem aufgefangen werden konnte, wurde das Gespräch abrupt beendet. Es lag einerseits am viel zu leichten Plastikgestell und andererseits wohl auch daran, daß wir mit unseren Fragen dis bislang fröhliche Runde – versammelt um einen feststehenden Tisch herum – einfach so auseinandergerissen hatten. Wir verabschiedeten uns ein wenig hastig.

Am Getränkestand stießen wir auf einen älteren Mann, Berufssoldat. Sein Zustand näherte sich der Volltrunkenheit, dennoch war er tadellos in der Lage, uns das Foto seiner Frau zu zeigen und den Inhalt seiner Brieftasche: Sammelfahrerlaubnis vom Lastwagen über Pkw, Traktor bis hin zum Moped, seinen Wehrausweis, diverse Papiere, Fotos, Adressen und 150 DM. Er erzählte, daß er so eine Art Schweinemeister war, verantwortlich für die Schweine des Regiments. Er wollte sie uns unbedingt zeigen, vergaß es dann aber wieder.

Wir sprachen mit den Musikern, die bald nach Nischni-Nowgorod heimkehren, mit ernsten Rekruten aus Kasachstan, die, einander eng umarmend, an den Tischen der Schachspieler standen, sowie mit zwei jungen ukrainischen Offizieren. Sie alle identifizierten sich als Russen. Die Frage, auf welche Fahne welcher Armee sie demnächst ihren Eid leisten werden – da es ja keine Sowjetarmee und bald auch keine Westgruppe mehr gebe – beantworteten sie so: „Irgendwo in der großen Armee wird auch für uns eine Heimat sein.“ Zufällig kamen wir dann noch mit einem älteren Offizier aus St. Petersburg ins Gespräch, der uns ein wenig über die Lebensbedingungen der Soldaten erzählte. Wir trafen ihn übrigens blätternd an einem Bücherstand, wo man reichlich deutschstämmige Christianisierungslektüre in kyrillischer Schrift feilbot, zwecks Hinführung zum Gottesglauben, im Schoße der richtigen Kirche; die selbstverständlich nicht die russisch-orthodoxe ist. Wir erfuhren folgendes:

Die in Deutschland dienenden Militärangehörigen sind ausgesprochen privilegiert, besonders die seit 1991 hier stationierten, sie bekommen ihren Sold in DM (vor 1989 übrigens in Mark der DDR, was auch schon ein Vermögen war), heute liegt ein durchschnittlicher Sold so zwischen 1.200 und 1.500 DM monatlich; die „Kuschoten“ allerdings, die einfachen Soldaten, bekommen nur 25 bis 50 DM. Den Berufssoldaten jedenfalls geht's noch gut, es gibt Geschäfte und ein Kaufhaus zum steuerfreien Einkauf in der Garnison, allerdings sind auch dort die Preise sehr gestiegen, billig sind nur noch Alkohol und Zigaretten (große Flasche Wodka 5,35 DM, Stange amerikanische Zigaretten 12,50 DM), dann gibt es für Offiziere noch zusätzlich ein Rationspaket monatlich (dafür gehen 35 Mark vom Sold ab). Es enthält z. B. 5 kg Fleisch, Mehl, Wurst, Nudeln, Milch, Tabak. Was allerdings nach der Rückkehr werden wird, das weiß niemand. Sicher ist, es entfällt die hohe Auslandszulage. Bei der herrschenden Inflation bleibt nicht mal ein Drittel vom heutigen übrig, wenn überhaupt. Viele werden demobilisiert werden ... es gab hier ja solche Umschulungsprogramme für jüngere Offiziere, z. B. für Datenverarbeitung und Management. Helfen wird das nicht viel, wenn Betriebe schließen. Alles ist durcheinander, hier unter der militärischen Ordnung merkt man es nicht so sehr, aber z. B. wurden Losungen geändert, Kragenspiegel, Fahnen selbstverständlich, und eine Weile herrschte Unsicherheit bei der privateren Anrede; „Tovarisch“, das alte „Genosse“, wurde abgeschafft, aber „Gospoda“ sagt man nur zu Höhergestellten, was also blieb? Die Anrede mit dem militärischen Rang. Der einfache Soldat wird ohnehin von allen mit Du angeredet, oder mit Scheißkerl. Aber zu Hause wird man ganz andere Probleme haben. Der Blechcontainer, der jeder Offiziersfamilie zusteht für den Rücktransport der Habe, ist schon so gut wie gepackt.

Wenn alle weg sind, werden offiziell 550.000 Menschen zurücktransportiert worden sein, davon fast 400.000 Soldaten und Offiziere (inoffiziell munkelt man von einer Million). Offiziell werden für 60.000 Familien keine Wohnungen vorhanden sein, zu ihnen gehören nochmal 90.000 Kinder. Inoffiziell ist auch diese Zahl um vieles höher, aber nicht bekannt. Für Zelte, Barackenlager und andere Notunterkünfte wird natürlich gesorgt, aber es ist zu befürchten, daß sie kein Provisorium bleiben. Viele Familien werden sich trennen müssen, was für einen Russen ganz furchtbar ist. Auch er wird in einer Kaserne leben, während seine Frau mit den Töchtern zu ihrer Mutter ziehen wird, in die Nähe von Moskau. Hier hatte man eine eigene Wohnung mit Kinderzimmer im 6. Stock Neubau. So wie er blicken alle beklommen in die Zukunft.

Etwas ermattet setzten wir – der Professor und ich – uns auf ein Mäuerchen am Ufer neben eine wohlbeleibte blonde Frau, in geblümtem Sommerkleid mit weißem Kragen. Sie genoß die Abendsonne, hatte ihre schwarzen Sandalen ausgezogen und grub mit den Zehen etwas im Sand. Ab und zu erschienen ihre wohlerzogen wirkenden Kinder und zeigten, was sie gekauft hatten: einen silberfarbenen herzförmigen Luftballon, einen Becher Cola, zwei Eis. Bald kam der Professor mit der Frau ins Gespräch, er stellte uns vor, sie stellte sich vor. Ihr Name war Natascha, sie arbeitete als Regimentsköchin in der Garnison, kochte für 200 Personen. Ihr Mann sei Offizier, zwei Kinder habe man, und in wenigen Tagen gehe es zurück nach Moskau.

Lachend über soviel Unwissen, gab sie mir das Teerezept für den Samowar: Auf drei bis vier Gläser Wasser kommen zwei Löffel Tee und ein Stück Zucker, aufkochen, auf den Samowar stellen, ziehenlassen, fertig. Die Blätter bleiben drin.

Denn, so die Russin: „Wir trinken unseren Tee nicht zum Wachwerden, so wie die Deutschen, sondern zum Genuß. Außerdem ist es so ökonomischer.“ Auch die russischen Kinder trinken schwarzen Tee, und ihr Mann, was wichtig ist, denn ihr Vater war ein Trinker. Die Mutter hatte geraten: „Heirate einen Militär, der trinkt nicht, denn es ist verboten.“ Es hat geklappt. Heute wird auch in der Armee viel getrunken. Ihr Mann jedenfalls ist vorbildlichm, und sie beköstigt ihn gut dafür. Er bekommt Milch, Fleisch, Brot, Eier, soviel er will. „Männer können ohne Fleisch nicht leben. Kinder mögen lieber Brei, und ich esse gerne gebratenen Fisch und Käse.“ Wir erfahren, bei einem Frühstück, da müssen unbedingt Würstchen dabei sein, denn es soll ja bis mittags vorhalten. Wie die Deutschen das machen, ist ihr ein Rätsel! Sie sagt die Worte „Butterbrot mit Kaffee“ auf deutsch und lacht begütigend. Dennoch, die deutschen Produkte schmecken ihr nicht. Sie sind so synthetisch, die Speisen. Brot, Joghurt, Tomaten, das alles schmeckt nach absolut nichts. Auch zu Hause sind in die Geschäfte die deutschen Produkte eingezogen. Sogar in Nowosibirsk gibt es deutschen und holländischen Käse, aber den guten russischen Käse des Rossijskijsyr, den kann man kaum noch bekommen, sagt sie: „Einerseits ist das schön, daß es mehr Farben gibt, aber andererseits kostet das Streben nach Westprodukten uns unsere Identität – und unsere eigenen Produkte.“ Der Professor, der anfangs nicht sonderlich ambitioniert war, wurde lebhaft und übersetzte mit entsprechendem Minenspiel: „Als ich zum ersten Mal in einen deutschen Supermarkt kam – es war Plus hier in Wünsdorf – da machte ich gleich wieder kehrt. Ich dachte, das ist ein Warenlager; so viele Stapel von allem und keine Schlange!“ Auf die Frage, was sie am meisten beeindruckt habe in Deutschland, bedauerte sie, so wenig gesehen zu haben vom Land, in der Kaserne lebe man wie in Rußland. Aber dann fiel ihr doch etwas ein: „Ich

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war im Zoo in Westberlin und konnte es gar nicht fassen, wie schön es die Tiere hier haben. Besonders die Raubtiere hinter den Glasscheiben, wo die Zuschauer sie nicht necken und stören können. Bei uns sitzen viele in engen, vergitterten Zellen, wo sie sehr traurig aussehen.“ Der Professor merkte an, daß auch die Tiere im Ostberliner Tierpark schöne Gehege und Unterkünfte haben.

Die Köchin nutzte das Stichwort, erklärte, daß es leider vielen Menschen daran heute zu Hause fehlte und daß es bald noch mehr sein werden. Sie wird mit den Kindern bei ihren Eltern leben. Aber sonst? Wie soll sie ihre Kinder erziehen? Die Tochter soll beizeiten lernen, daß Armut zum Konflikt führt. Nicht jeder kann Spekulant werden! Man muß heute mit dem Herzen denken. Manche werden religiös. Vielleicht ist da was dran. Wie wäre es sonst zu erklären, daß die Skrupellosen siegen? Es muß einen Gott geben!

Da sah ich sie plötzlich vor mir, die leninsche Köchin, vernunftbegabt, witzig und selbstbewußt. Genug um einen Staat zu führen. Der Professor war begeistert. Die Köchin äußerte, Probleme zu haben mit dem „Gefühl für Gerechtigkeit“, das ja nun jeder in sich überwinden müsse, in der Marktwirtschaft. Sie fragte den Professor, ob das denn unbedingt nötig sei, und wenn, wie er selbst es geschafft habe. Er hielt ihr einen kleinen Vortrag über die Wirkungsweise der sozialen Kräfte, und sie rief: „Wir haben die Fehler von 1917 alle verstanden. Man wird sie nicht wiederholen!“ Woraufhin der Professor einige Ausführungen zu einer möglichen neuen Identität Rußlands wagte, was aber von der Köchin mit einem Seufzer kommentiert wurde: „Große Pläne kann der einfache Mensch nicht machen, wozu hat er sie dann? Sehen Sie, ich bin kommunistisch, damit ich nicht glaubenslos dastehe, aber in der Partei war ich nie.“ Auf dem Gesicht des Professors erschien ein mildes Lächeln. Sie erklärte, wie sie sich bemüht, Werte zu konservieren, die von außen her nicht zum Schwanken gebracht werden, denn viele Leute wollen an die Macht und, man kann ja nicht jedesmal umdenken. Sie schätzt Jelzin nicht, aber auch nicht Schirinowski – der ist kein guter Politiker, denn gute Politiker sagen nie, was sie denken.“ Die Köchin zog ihre Sandalen an und sagte ernst: „Unsere letzten Tage sind schon angebrochen und deshalb waren wir Russen erfreut, außerhalb der Kaserne einen Tag mit Deutschen zu verbringen ...“ sie stockte etwas, musterte den Professor und fragte sehr höflich, fast förmlich: „Sind die Deutschen froh darüber, daß wir weggehen?“ Der Professor räusperte sich nach Art der ehemaligen DDR-Intellektuellen und antwortete folgendermaßen: „Also ich persönlich finde, daß die offizielle Art und Weise der Verabschiedung beleidigend ist für die Russen. Wäre es nach mir gegangen, so hätte es ein großes Abschiedsfest mit vielen Künstlern gegeben, mit vielen verschiedenen kostenlosen deutschen Speisen und Getränken ...“ Darauf sagte sie merkwürdig ernst und feierlich: „Ich bedanke mich für diese ehrliche Antwort.“ Bevor wir gingen, sagte sie mir noch den Speiseplan für die Mannschaft:

Frühstück: Kascha (warmer Buchweizen), dazu Tee, Würfelzucker und Kastenbrot oder Spaghetti mit Soße (rationierte Portionen, pro Mann und Tag 700 g Brot = ein Laib).

Mittagessen: Tschi (gelbe Krautsuppe), Brot, Kartoffelbrei mit brauner Soße, zwei Stück Fleisch (Gulasch). Gemüsebeilage: Gesäuertes Weißkraut.

Abendessen: Kartoffelbrei mit gebratener Makrele/oder Makrele in Öl, Tee, Würfelzucker, Brot.

Ich habe mich erkundigt, was am selben Tag die einfachen Soldaten der US-Army in einer Berliner Kaserne aßen:

Frühstücksbuffet (Menge und Auswahl frei): diverse Eiergerichte, Speck mit Kartoffeln, Französischer Toast, Cream beaf, Kaffee, Orangensaft, Milch.

Mittagessen (Auswahl und Menge frei): süß-saures Schweinefleisch, Rinderbraten, Beilagen nach Wahl: Kartoffeln, Reis, Kartoffelsalat, zwei Soßen, grüne Bohnen, Blumenkohl, Nachtisch Götterspeise. Cola, Saft, Sprite, Wasser.

Abendbrot (Auswahl und Menge frei): Hamburger, Hot dog, gebackene Bohnen, Pommes frites. Div. Getränke. Zwei Scheiben Toast mit Käse gebacken, Spaghetti mit Fleischsoße. (Dazu, ebenso wie Mittags zwei Sorten Gemüse und Fleisch nach Wahl.)

Leicht vorstellbar, wie die Bundeswehr ißt. Man fragt sich, was nach dieser flüchtigen Begegnung die Russen für einen Eindruck mit nach Hause nehmen. Jedenfalls hat einigen Deutschen der Buchweizen geschmeckt. Ich habe mich erkundigt, was die Deutschen Gastgeber ihrerseits für die Gäste bereithielten. Auf meine Frage, was gratis gewesen sei, antwortete mir eine Dame vom Bürgermeisteramt: „Na, der Eintritt war gratis!“ Und das war noch nicht alles, der Ministerpräsident von Brandenburg, unter dessen Schirmherrschaft das Fest stand, hatte 1.000 Würstchen und 200 Liter Bier spendiert, wovon allerdings ein nicht geringer Teil in deutschen Mägen landete. Den Rest des Festes hatte ein Veranstaltungsbüro organisiert, gegen gutes Honorar drittklassige Unterhaltung und umsatzorientierte Fleischermeister und Getränkehändler der Region zusammengewürfelt.

Die Frage nach der aufgebrachten Summe wollte der Konversionsbeauftragte des Landes Brandenburg nicht beantworten: „Einige zehntausend Mark.“ Das ist doch preiswert! Und sparen müssen jetzt alle. Der Bund hatte in seinem Haushalt für 1994 alle Gelder für „kulturelle und gesellschaftliche deutsch-russische Kontakte“ gestrichen; fürs Jahr der Verabschiedung.

Meine Frage nach dem Text des russischen Abschiedsliedes brachte den Wünsdorfer Presseoffizier, Oberst Andrejew, in leichte Verlegenheit. Es ist weder übersetzt, noch im Original veröffentlicht. Er schlug vor, daß ich nach zwei Stunden nochmal anrufe, bis dahin wolle er ihn beschaffen. Und tatsächlich, er war sogar bereit, mir eine Übersetzung aus dem Stehgreif zu versuchen, betonte aber: „Ich bin nicht autorisiert, das ist nur provisorisch und nicht gereimt, leider.“ Dieser Versuch soll nicht unterschlagen werden:

„Lebe wohl Deutschland, lebe wohl / Wir verabschieden uns nun und erwarten die Umarmungen der Heimat / Erinnert euch an uns, an die Soldaten der russischen Armee, die die Welt von der braunen Pest befreit haben / Lebe wohl, Deutschland, lebe wohl / Uns erwartet nun das liebe Vaterland / Der Brand des Krieges ist seit langem gelöscht, und wir verabschieden uns heute in Freundschaft.“

Refrain: „Empfange uns Heimat, alle / Lebe Land und blühe / Wir haben unsere Pflicht bis zum Ende erfüllt, jetzt schlagen unsere Herzen für Rußland / Es werden uns die geliebten russischen Birken empfangen, Tau wird auf ihren Blättern funkeln. Die Mutter wischt heimlich Freudentränen fort, es leuchten die Augen des Mädchens / Wir gehen, doch unsere Lieder bleiben / In ihnen lebt eine einfache russische Seele / Mögen sie von Herz zu Herz fließen und davon erzählen, wie Rußland gut ist.“

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