Laut Guns N’ Roses sind ein Rätsel der Rockgeschichte – nun stehen sie, nach 23 Jahren, wieder auf der Bühne: Boygroup für Badboys
von Jens Uthoff
Was ich erinnere, sind Haare. Klamme, verschwitzte Haare, die umherfliegen und die Männern mit nackten Oberkörpern und verblichenen Tätowierungen gehören. Die Kerle – wirklich richtige Kerle – sind einen Kopf größer als wir. Sie springen herum und sie pogen. Sie spritzen mit Bier und sie riechen nach Schweiß. Auch die Frauen, die um uns herumstehen, tragen kaum etwas am Körper, nur BHs und kurze abgeschnittene Stonewashed-Jeans. Von weit her dröhnt dumpfer und lauter Sound. Die Musik ist kaum erkennbar, wirklich zu hören ist nur der markerschütternde Gesang von Axl Rose.
Es ist der 19. Juni 1993. Ein lauer Samstagabend im Müngersdorfer Stadion, Köln. Für Dirk Hagemeyer und mich – zwei Hänflinge, gerade 15 Jahre alt, etwas über 1,60 Meter – ist es das erste große Rockkonzert, für das wir aus der Provinz angereist sind. Mehr als 70.000 Fans sind ins Stadion gekommen. Ein ungesunder Dunst liegt im Rund, es riecht nach Kiff und Alkohol. Vorne, hundert Meter Luftlinie, spielt die größte Rockband der Welt: Guns N’ Roses.
Wir müssen hochhüpfen, um etwas von ihnen zu sehen: Sänger Axl Rose rennt – also er sprintet wirklich – mit dem Funkmikrofon auf der Bühne hin und her. Er trägt weiße, weite Klamotten und hat seine Mähne unter einer roten Baseball-Cap versteckt, die er falsch herum aufgesetzt hat. Von Slash ist weniger zu erkennen: Ich sehe nur einen schwarz gekräuselten Haarschopf, aus dem eine Gitarre heraushängt. Aber kein Zweifel: Es ist der Gitarrengott Saul Hudson alias Slash mit seiner Les Paul.
Slash und Axl Rose: Es ist dieses Frontduo, mit dem die Gruppe aus L. A. zwischen 1985 und 1996 ihre goldene Ära erlebt: Ihr berüchtigtes erstes Album „Appetite For Destruction“ (1987) – „Zerstörungslust“ – ist mit 16 Millionen abgesetzten Tonträgern bis heute eines der meistverkauften Debütalben aller Zeiten. Zwischen 1991 und 1993 touren sie mit den Alben „Use Your Illusion 1 & 2“ insgesamt 26 Monate durch ausverkaufte Stadien in aller Welt. Rockballaden wie „Sweet Child O’ Mine“ und „November Rain“ kennt man rund um den Globus. Und mit dieser Tour beginnt die Zeit der Drogeneskapaden und Zerwürfnisse. Leadgitarrist Slash verlässt 1996 nach einem Streit die Gruppe. Guns N’ Roses spielen in den Folgejahren in anderen Besetzungen mit Rose als Sänger; sie veröffentlichen 2008 gar ein lang angekündigtes Album namens „Chinese Democracy“. Der Glamour früherer Tage? Längst passé.
Dabei sind Guns N’ Roses ohnehin ein riesengroßes Rätsel der Rockgeschichte. Als sie sich Mitte der Achtziger im Underground von L. A. formierten, da lag der klassische Rock männlicher Prägung am Boden. Punk und New Wave hatten alles verändert, stellten Virtuosentum und Starkult infrage. Nun kam also diese Band, bestehend aus einem Sänger mit unfassbar schräger Stimme und einem Gitarristen, der die große Rockpose zu erneuern suchte. Der eine toupierte sich Hairsprayfrisuren oder band sich Kopftücher um, hatte Armringe am Handgelenk und trug eine Lederjacke zu kurzer, weißer Radlerhose. Bei dem anderen sah man ständig eine Kippe im Mundwinkel kleben, auf den Locken thronte oft ein schwarzer Zylinder. Grunge und Postpunk waren gerade dabei, die klassischen Rollenbilder zu entzaubern – und nun galten diese Mackertypen als die „gefährlichste Band der Welt“, wie das britische Musikmagazin Kerrang sie 1987 bezeichnete?
Köln-Müngersdorf, 21 Uhr. Axl Rose, Slash, Gitarrist Gilby Clarke, Keyboarder Dizzy Reed, Bassist Duff McKagan und Drummer Matt Sorum betreten die Bühne, die Leute toben. Der erste Song: „It’s So Easy“. Ein Basslauf, ein Rockriff, Axls Sirenengesang. Die Angst, zwischen Schweißrücken und Schmerbäuchen zerdrückt zu werden, muss hintenan stehen. Stattdessen grölen wir mit, in der Tonlage Stimmbruch. Axl Rose brüllt sich die Seele aus dem Leib. Er singt: „I see you standin'’there/ you think you’re so cool/ Why don’t you just/ Fuck off!“ Er singt dieses „Fuck off“ nicht, er shoutet es nicht, er presst es aus den Tiefen seines Körpers heraus. Sein Organ muss Folter für jemanden mit absolutem Gehör sein.
Doch bei William Axl Rose, kurz W. A. R., also Krieg, schien das mehr als nur Pose zu sein. In jeder Stimmlage klang bei Rose, der als William Bruce Bailey Jr. 1962 in der Kleinstadt Lafayette in Indiana geboren wurde, tiefe Verletztheit an.
Der Journalist Jeremiah Sullivan hat den wohl besten Artikel über den Guns-N’-Roses-Sänger geschrieben – „Das finale Comeback des Axl Rose“, 2006. Er besuchte damals einen seiner Jugendfreunde. „Was an seiner Musik hat Ihrer Meinung nach mit Lafayette zu tun?“, fragte Sullivan diesen. Antwort: „Die Wut, Mann. Ich würde sagen, die hat er von hier.“
Der langjährige Bassist der Band, Duff McKagan, schreibt in seiner Autobiografie: „Sein Heulen war purer, unverfälschter Zorn und Schmerz, keine Stimmübung; ganz klar – als der Sound zum ersten Mal aus ihm herausgekommen war, da war er aus seiner Magengrube gekommen.“
Amok, Penner, Psychiatrie
Rose’ Story ist die eines Losers, eines Außenseiters, eines Draufgängers. Vom Stiefvater wurde er geschlagen, vom leiblichen Vater sexuell missbraucht, wie er sagt. In Lafayette bekam er ständig aufs Maul. Landete oft im Knast. Er hätte als Amokläufer, als Penner in Hollywood oder in der Psychiatrie enden können – aber ihm jubelten 70.000 Rockfans zu. Eine solche Biografie zieht vor allem männliche Teenager magisch an – der Pop hält bis heute, wenn auch eher in Genres wie HipHop, solche für Pubertierende faszinierende Narrative zwischen Widerständigkeit und Selbstzerstörung bereit.
„Welcome To The Jungle, we’ve got Fun and Games“, kreischt Axl jetzt. Der Dschungel, wir sind mittendrin. Mir ist flau im Magen, schlecht von den Zigaretten und vom warmen Bier, das wir den ganzen Tag über getrunken haben. Rose rotzt zum Ende des Songs die Worte dahin: „It’s gonna bring you down – huh!“ Um uns herum johlt die Menge euphorisiert. Slash sitzt zu „November Rain“ auf einem Barhocker, spielt auf einer Gitarre mit zwei Hälsen. Axl steht weiter keine Minute still. Er ist gut in Form. Hagemeyer und ich singen jedes Schimpfwort mit. Jedes Fuck, jedes Bitch, jedes Motherfucker.
Guns N’ Roses waren damals eine Boygroup für Badboys oder solche wie uns, die es gerne gewesen wären. Bassist McKagan spricht von der Band als „Gang“, von einer „Wir-gegen-die-Welt-Mentalität“, die zu seinem Bedauern im Lauf der Jahre nachgelassen habe. Die Songs sind voll von diesen „Us vs. Them“-Zeilen. Im Text zu „Get In The Ring“ etwa inszenieren sie einen Schlagabtausch mit Musikjournalisten im Boxring. Große Unterhaltung.
Der letzte Song ist „Paradise City“. Es ist dunkel geworden in Köln. Axl Rose hat sich umgezogen und trägt jetzt ein helles Hemd. Von der Bühne knallt zum Schluss noch mal Stroboskopgewitter. Zwei Stunden haben sie gespielt. Mein Kumpel Hagemeyer sieht mitgenommen aus, er ist ein bisschen bleich und steht nur noch statisch da. Vorbei, over. Wir drängeln uns raus. Seine Eltern holen uns ab.
Ein Erweckungserlebnis für Kleinstadtkids mögen Guns N’ Roses gewesen sein, eins aber waren sie sicher nie: emanzipatorisch. Eher waren sie reaktionär, ein berühmtes Beispiel ist der Song „One In A Million“ (1988), in dem Rose singt: „Police and Niggers, that’s right/ get out of my way (…)/ Immigrants and faggots/ they make no sense to me“. Ganze Freistunden füllten Diskussionen über diesen Song in unserer Jahrgangsstufe damals, denn Rassismus, das ging dann irgendwie doch nicht (über das Wort „faggots“ – Schwuchtel – wurde damals übrigens weniger diskutiert). Wir versuchten unseren Helden und Texter Axl Rose natürlich noch zu verteidigen: Er sei halt generell seiner Umwelt gegenüber feindselig gestimmt, da treffe es eben auch mal die Falschen.
Der weiße Mann und seine Angst um Statusverlust schienen bei Guns N’ Roses mitzudichten. Frauen glichen in Guns-N’-Roses-Lyrics eher Gebrauchsgegenständen („Turn around bitch I got a use for you“, heißt es etwa in „It’s So Easy“). Guns N’ Roses waren – nicht nur, aber auch – Musik für den White Trash und für den heterosexuellen jungen Mann, der die Frauen wahrscheinlich eigentlich fürchtete und dies in Aggression ummünzte.
„Sie waren die letzte große Rockband, die es nicht irgendwie auch ein bisschen peinlich fand, eine Rockband zu sein“, schreibt Sullivan. So schön das klingt, kann man es durchaus bestreiten, denn einige Bandmitglieder prahlten auch mit eigenem Tour-Jet, Millionen Dollars und Drogen- wie Frauengeschichten. Vielleicht belässt man es eher bei dem ersten Satz: Sie waren die letzte große Rockband. Punkt.
Vor knapp drei Wochen standen Slash und Axl Rose in Los Angeles das erste Mal seit 23 Jahren wieder gemeinsam auf der Bühne. Und am heutigen Samstag werden sie beim Coachella, einem der größten US-amerikanischen Festivals, auftreten.
Dirk Hagemeyer ist heute Fachanwalt für Verkehrsrecht. Sagt zumindest Google. Keine Ahnung, was er heute Abend treibt. Ich jedenfalls schaue mir den Livestream an.
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