Lange gesuchter Internet-Hit: Der Songschreiber des geheimnisvollsten Songs im Netz
17 Jahre suchten Nutzer*innen im Netz nach dem Komponisten eines New-Wave-Songs – bis sie bei einer unbekannten Lokalband aus Kiel fündig wurden.
Am Anfang ist ein Song, oder besser: ein Songschnipsel. 74 Sekunden Musik, die durch das Internet geistern. Am 18. März 2007 lädt eine Nutzerin einen kurzen Radiomitschnitt von einer alten Mix-Kassette ihres Bruders in einem Internetforum hoch. Ein melancholisch-mäanderndes New-Wave-Stück mit einem catchy Refrain und dunkler Achtziger-Note. Die Userin fragt, von wem das wohl ist, aber keiner weiß es.
Mit diesem Thread beginnt eine jahrelange Suche nach dem Interpreten dieses Tracks, die sich auf Youtube, Reddit und Co. fortsetzt und bei der weltweit Nutzer:innen mit einer Hingabe agieren, mit der nur Nerds bei der Sache sein können. Nach vielen Jahren der erfolglosen Suche wird dem unbekannten Song 2019 der Titel „Most Mysterious Song on the Internet“ verliehen. Und erst Ende 2024 wird das Geheimnis um diesen Track schließlich gelüftet.
Der Mann, der den Song komponiert hat, sitzt an einem Sommerabend beim Interview im Garten eines Hotels in Berlin-Lichtenberg. Er heißt Ture Rückwardt, ist 70 Jahre alt, hat lange, graue Haare, trägt ein helles, weites Hemd, wirkt tiefenentspannt und kommt etwas althippiemäßig daher.
Er war vor über 40 Jahren Sänger und Songwriter der Kieler Band FEX und lebt bis heute in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt. FEX war nur von 1983 bis 1985 aktiv, die New-Wave-Gruppe hat seinerzeit lediglich ein Demo-Tape veröffentlicht, über die Stadtgrenzen hinaus kannte sie kaum jemand. Das hat sich vor einem halben Jahr geändert: „Subways of Your Mind“, der „Most Mysterious Song on the Internet“, stammt von ihnen.
Kein Kontakt zu den Bandmitgliedern
„Wir hatten von dieser Suche überhaupt nichts mitgekriegt“, erzählt Ture Rückwardt, „bis unser Keyboarder Michael Hädrich Anfang November 2024 eine E-Mail aus den Niederlanden erhielt.“ Der Reddit-Nutzer marijn1412 hatte eine Spur zu einem Talentwettbewerb in Bremen verfolgt, den die Band FEX 1984 gewann. Er kontaktierte Hädrich, fragte ihn, ob sie besagten Song komponiert hätten. Match! Hädrich grub die alten Demos der Band aus, schickte dem User diese zu, das Rätsel war gelöst.
Der Kontakt der damaligen Bandmitglieder war zu jener Zeit längst eingeschlafen; Ture Rückwardt hatte als Theatermusiker gearbeitet, er spielte zwischenzeitlich in vielen weiteren Bands, zum Beispiel bei den Raindogs, die Songs von Tom Waits und Kurt Weill neu interpretiert haben. Keyboarder Michael Hädrich lebte in München und war dort als Musikproduzent tätig, Bassist Norbert Ziermann arbeitete als Bühnenbildner in Kiel und anderen Städten.
In der Gruppe spielte einst zudem Schlagzeuger Hans-Reimer Sievers, und auch Ilona Rückwardt – Ture Rückwardts erste Frau – war Teil der Band; sie verließ die Gruppe 1984, als sie ein Kind bekam. Der Bandname stammt von ihr. „Fex“ nennt man im Österreichischen und Süddeutschen jemanden, der von etwas sehr begeistert ist.
Nach dem Outing als Most-Mysterious-Songschreiber trafen sich Keyboarder Hädrich, Bassist Ziermann und Rückwardt Ende 2024 wieder, es sei schnell ein vertrautes Gefühl entstanden: „Es war, als wäre unsere letzte Probe erst gestern gewesen“, sagt Rückwardt. In den frühen Achtzigern hätten sie einfach auch sehr viel Zeit miteinander verbracht, jeden Tag einen Song geschrieben. Nun wollen sie weitermachen, nach 40 Jahren Pause, rhythmische Verstärkung bekommt das Trio von einem Drumcomputer.
Der Track „Subways of Your Mind“, so Rückwardt, sei schon damals bei Live-Auftritten am besten angekommen, „und jetzt hat sich herausgestellt, dass dieses Lied Menschen auf der ganzen Welt berührt.“ Ein Fan habe ihm zum Beispiel geschrieben, der Song hätte ihn durch eine sehr schwere Zeit begleitet. „So etwas zu lesen, macht mich glücklich und stolz.“ Die Masterbänder der Aufnahmen von damals hatten die Bandmitglieder zum Glück behalten, kürzlich haben FEX eine remasterte Version des Songs veröffentlicht.
Neues Album
„Subways of Your Mind“ ist nun auch in gleich zwei Versionen auf dem Debütalbum „Skyscraper“ zu hören, das vor wenigen Wochen erschienen ist und ebenfalls remasterte Aufnahmen damaliger Songs enthält. Auf dem Album ragt das Stück heraus.
Eingängige Gitarrenakkorde leiten den Song ein, die hohen, flirrenden Keyboard-Sounds wecken Achtziger-Assoziationen, es klingt wie ein klassischer düsterer Wave-Song. Mit Lyrics, die von Traurigkeit erzählen und zugleich Hoffnung vermitteln: „Check it in, check it out, but the sun will never shine / Paranoid anyway, in the subways of your mind“, singt Rückwardt im Refrain.
Nach Berlin gekommen ist er zum Dreh des Videoclips für den Song. Dafür hat das Produktionsteam in einer Location in Lichtenberg sein Jugendzimmer aus den Achtzigern nachgebaut, „mit einem Poster von Salvador Dalí an der Wand, einem Plattenspieler, einem Vierspurrekorder und einer Drum Machine. Das hatte ich alles damals in meinem Zimmer und habe damit rumprobiert.“
Ture Rückwardt war eigentlich schon halb in Rente, komponiert aber weiter Musik fürs Theater. Jetzt bestimmt die alte und neue Band sein Leben. „Jede Woche eine Online-Probe, Merchandise verkaufen, Bürokram erledigen, die vielen Fragen der Fans auf Reddit und Instagram beantworten.“ Auch Live-Auftritte sind nicht ausgeschlossen. Die weltweite Fan-Community dürfte dies mit Freude zur Kenntnis nehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Herbst der Reformen
Wenn jemand immer wieder Nein sagt
Söder will regionale Erbschaftsteuer
In Bayern soll das Sterben am günstigsten sein
Shanghaier Organisation für Kooperation
Autoritäre Internationale trifft sich in China
Israel und Mathias Döpfner
Bild dir deinen Freund
Ukrainischer Historiker über Selenskyj
„Die Ukraine kauft Zeit für Europa“
Klimaaktivistin über langen Atem
„In diesem Sinn bin ich wohl eine Staatsfeindin“