Landleben: Die letzten Bauern von Heiligensee
Jochen Zorns Bauernhof gibt es seit 100 Jahren. Doch die Landwirtschaft lohnt kaum noch. Trotzdem will der 13-jährige Enkel, der Trecker fährt und Bullen zähmt, unbedingt Bauer werden.
Wer Bauer ist, ist es auch im tiefsten Winter. Berlin ächzt unter einer Kältewelle, und auf den Feldern von Jochen Zorn versinkt man bis über die Knöchel in unberührtem Schnee. Zorn, ein Angestellter und seine zwei Töchter, Heike und Anke, stapfen durch den Schnee, hinter sich ziehen sie ein Wägelchen mit Kübeln voll Futter.
Jochen Zorn ist ein kräftiger Mann. In den Arbeitshandschuhen werden seine Hände zu Pranken. Anfang des Jahres ist er 70 Jahre alt geworden, seit mehr als 40 Jahren arbeitet er auf dem Hof in Heiligensee. Allerdings kann von Bauernhof kaum die Rede sein: Es gibt weder Wohnhaus noch Scheune - stattdessen ein paar Schuppen für die Geräte und etwas notdürftig aussehende Ställe für die 50 Kühe. Über Pflug und Traktor liegen Planen. "Man verschuldet sich eben nicht mit Millionen Euro auf gepachtetem Land", sagt Zorn.
Einst, als der Hof vor 100 Jahren gegründet wurde, sah er noch viel traditioneller aus, stand in Borsigwalde und gehörte dem Großvater von Jochen Zorns Frau, Wilhelm Zickerick. Mitte der 60er-Jahre übernahm dann Jochen Zorn den Hof. Damals hatte er noch Milchkühe und Schweine. Die Milch wurde direkt an die Anwohner verkauft und die Schweine mit Küchenabfällen aus der Stadt gefüttert. Die Nähe zur Stadt lohnte sich, denn die Wege zum Kunden waren kurz und mit der Abholung der Küchenreste konnte sogar Geld verdient werden.
Doch dann wurde der Milchverkauf am Hof komplizierter, Schweine durften aus Angst vor der Schweinepest nicht mehr mit Küchenabfällen gefüttert werden. Auch zogen immer mehr Menschen nach Borsigwalde, die sich an den Geräuschen und Gerüchen des Hofs störten. Jochen Zorn pachtete die Felder in Heiligensee dazu, begann damit, eine Fleischkuhherde zu halten, und baute Roggen und Gerste an. Die Grundstücke in Borsigwalde sind inzwischen verbaut und vermietet, aus Hofgebäuden wurden Büroräume. Zorn und die Familien seiner Töchter wohnen in Reihenhäusern in Heiligensee und Tegel.
Zorn hat ein Händchen für die Landwirtschaft, er sei mit Leib und Seele Bauer, sagen seine wenigen Kollegen in Berlin. Seine Tiere bleiben lange bei der Mutter, sie haben Stall und Auslauf und werden mit Getreide von den eigenen Feldern gefüttert. Einmal im Monat wird geschlachtet und an Kunden aus der Umgebung verkauft. Bio ist das Fleisch zwar nicht, aber artgerecht produziert.
Und trotzdem sieht die Zukunft nicht rosig aus: Im sandigen Berliner Boden waschen die Nährstoffe schnell aus und 50 Hektar bringen nicht die benötigten Erträge; eine 50-köpfige Kuhherde reicht nicht zum Überleben, und weit und breit gibt es keine anderen Bauern, mit denen sich die Zorns die Geräte teilen könnten. Den Mähdrescher holen sie für zwei Wochen zur Getreideernte heraus, den Rest des Jahres parkt er in einer Garage. "Es ist fast nur noch Hobby, was wir hier machen", sagt Zorn. "Aber es fällt einem nicht leicht, so einen Hof aufzugeben."
Als zweites finanzielles Standbein gibt es auf dem Zornschen Hof deshalb eine Pferdepension: Die Mieten, die die Pferdebesitzer zahlen, machen die kleine Fläche lohnenswerter. So sehr, dass fast alle Landwirte in Berlin ganz auf Reiterhöfe umgestiegen sind. Das erste Pferd kam vor 40 Jahren auf den Hof, als Jochen Zorns Tochter Heike im Alter von sechs Jahren ihr Herz für Pferde entdeckte. Wo Platz für Kühe und Schweine war, war auch Platz für ein Pony. Wo Platz für ein Pony war, war später auch Platz für ein zweites für die vier Jahre jüngere Anke. Und wo Platz für zwei Ponys war, konnte auch das Pony einer Freundin unterkommen. Heute wohnen auf dem Hof etwa 15 Pferde.
Doch ihre Leidenschaft für Pferde führte Heike Zorn weg von der Landwirtschaft. Nach der Schule absolvierte sie eine Lehre als Kauffrau und eröffnete mit ihrer Schwester einen Reitsportladen am S-Bahnhof Heiligensee. "Wir haben das von unserer Großmutter", sagt Heike Zorn. "Sie war genauso pferdeverrückt wie wir."
Dass sie niemals Vollzeitbäuerinnen werden würden, war beiden Schwestern immer klar. "Damals habe ich noch gar nicht daran gedacht, was aus dem Hof werden soll", sagt Heike Zorn. "Mein Vater war jünger und die Frage stellte sich nicht." Heute teilen Heike und Anke ihre Zeit zwischen Hof und Geschäft, doch die meiste Arbeit auf dem Hof wird von Jochen Zorn verrichtet, die Mutter macht die Verwaltungsarbeit. "Wir erhalten den Hof, damit mein Sohn etwas hat, worauf er aufbauen kann", erzählt Heike Zorn. Denn auch diese Leidenschaft hat eine Generation übersprungen: Der 13-jährige Marco liebt die Landwirtschaft so wie sein Großvater.
Marco macht mit seinen kurzen Haaren, ausgeblichenen Jeans und Kapuzenpullover einen etwas verschlossenen Eindruck. Doch sobald es um Landwirtschaft geht, wird er gesprächig. "Nach der Schule verbringe ich die meiste Zeit auf dem Feld", erzählt er. "Ich kann Traktor und Mähdrescher fahren und Ballen rollen - alles. Nur Pestizide spritzen darf ich noch nicht." Er liest regelmäßig die Bauernzeitung, das FleischrinderJournal oder das Magazin top agrar.
Und jedes Jahr zähmt er einen Bullen. Der müsse mit Menschen so vertraut gemacht werden, dass er auf der Landwirtschaftsschau keine Angst vor dem fremden Publikum habe, erklärt Marco. "Beim Jungzüchterwettbewerb achten die Richter darauf, wie gut man sich mit dem Bullen versteht." Das ist wichtig, denn ein ausgewachsener Bulle verlässt nur ungern seine Herde, und gegen seine 800 Kilo kommt kein Landwirt mit Gewalt an. Schon drei Mal sind Marco und seine Bullen beim Jungzüchterwettbewerb ausgezeichnet worden. "Es ist schon beeindruckend, wie der Bengel so einen Riesenbullen herumführt", erzählt die Tante, Anke Zorn.
Als Bauernkind am Rand einer Großstadt hat Marco es nicht leicht. "In der Grundschule finden es die anderen Kinder erst toll und wollen alle vorbeikommen", erzählt seine Mutter. "Später fängt es dann an mit den Hänseleien." Seit Marco auf dem Gymnasium ist, erzählt er deshalb nicht mehr vom Bauernhof-Zuhause. Umso mehr macht sich der 13-Jährige ernsthafte Gedanken über seine Zukunft als Landwirt. "Von den Feldern hier kann ich nicht leben", sagt er. "Ich brauche entweder bessere Böden oder mehr Fläche und eine Herde, die mindestens fünfmal größer ist."
Doch in Berlin gibt es den Platz dafür nicht. Deshalb endet der Berliner Teil der Geschichte vom Zornschen Hof aller Voraussicht nach mit Marco.
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