Landleben versus Großstadtdasein: „Da wird zu wenig differenziert“
Lisa Maschke forscht zu den Potenzialen ländlicher Räume für die sozial-ökologische Transformation. Ein Gespräch über kritische Landforschung.
wochentaz: Frau Maschke, in Bayern und Franken feierte im Wahlkampf das Bierzelt seine politische Wiedergeburt. Ist damit das Bild von der rückständigen Provinz zurück?
Lisa Maschke: Das war nie weg. Selbst bei Leuten, die sich mit ländlichen Räumen beschäftigen, taucht in Diskussionen immer wieder ein sehr starres Bild auf. Auch ein sehr altes Bild, nicht nur als rückständig wird das Land da gesehen, sondern auch als konservativ und rechts. Da wird viel zu wenig differenziert.
Differenzieren Sie mal.
Tatsächlich ist das Land viel weiter als die Bilder, die viele von ihm haben. Auch Mädchen gehen heute zur freiwilligen Feuerwehr, und auch auf dem Land gibt es eine Willkommenskultur.
wurde 1992 in Hamburg geboren. Sie wuchs in Geesthacht und im Wendland auf. Maschke wohnt mit ihrer Familie in einer Wohngemeinschaft auf einem Resthof in Oberfranken. Maschke studierte Geografie und Entwicklungsforschung in Bayreuth und machte anschließend ihren Master in Humangeografie in Frankfurt am Main. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur in der Abteilung Stadt- und Regionalentwicklung der Universität Bayreuth. Zuvor war sie als Beraterin für nachhaltige Kommunalentwicklung tätig. (wera)
Die undifferenzierten Bilder stammen vor allem von denen, die in der Stadt leben?
Ja. Und da ist auch eine Arroganz dabei, die ich für gefährlich halte. Das Thema ländliche Räume hat nicht nur in der Politik, sondern auch bei den urbanen Eliten lange Zeit keine wirkliche Rolle gespielt. Stattdessen blicken viele eher abschätzig auf die Menschen in ländlichen Räumen.
Warum eigentlich? Müssen sich die Eliten in der Stadt selbst versichern, dass sie fortschrittlicher sind als die vermeintlich rückständige Provinz?
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich eine Gruppe über eine andere definiert. Vielleicht hat es aber auch mit den Erfahrungen zu tun, die diese Menschen selbst in ländlichen Räumen gemacht haben. Vor allem diejenigen, die dort in den 60er und 70er Jahren groß geworden sind, haben das Leben dort oft als negativ, als einengend erlebt. Manche scheinen vom Leben auf dem Land regelrecht traumatisiert zu sein.
Vor der sozialen Kontrolle auf dem Dorf fliehen auch heute noch viele in die Anonymität der Großstadt.
Das prägt einen sicher. Da bleibt dann dieses Bild bestehen, auch wenn es vielleicht nicht mehr der Realität entspricht. Und bei den Bildern aus dem Bierzelt wird es bestätigt.
Wann und warum ist dieses Bild vom rückständigen Landleben entstanden?
Das sind sehr unterschiedliche Ursprünge. In linken Diskursen geht das meiner Meinung nach unter anderen auch auf Marx zurück. Da spielten vor allem die Besitzverhältnisse eine Rolle. Die Rückständigkeit zeigte sich vor allem am vorherrschenden Privateigentum. Bis heute leben auf dem Land mehr Menschen in Eigenheimen als in Mietwohnungen. Da entstand dann diese Zuschreibung des Festhaltens und Schützens des Eigenen, vom Bewahren von Traditionen.
In ihrer Masterarbeit beschäftigte sich Lisa Maschke mit Potentialen ländlicher Räume für die sozial-ökologische Transformation. 2020 veröffentlichte sie mit Michael Miessner und Matthias Naumann im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Studie „Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven“, die im Transcript-Verlag erschienen ist. (wera)
Das Kleben auf der Scholle, das einen daran hindert, in die Welt zu gehen und seinen Horizont zu erweitern.
Der ländliche Raum wurde im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung dann immer mehr zum Gegenentwurf der Stadt. Die Jungen und Mobilen gehen weg …
… Stadtluft macht frei.
Und zurück bleiben die Alten, weniger Mobilen und in der Regel geringer Qualifizierten.
Die hübsche Schwester der Rückständigkeit ist die Idylle.
In der gesellschaftlichen Wahrnehmung sind die Städte die Orte, an denen Veränderung stattfindet. Hier gibt es Innovation und Fortschritt. Aber insbesondere im 19. Jahrhundert gab es dort auch Krankheit, Armut, Hunger. Wer es sich leisten konnte, ging zur Erholung raus in die Natur, aufs Land, das bald zum Synonym für das einfache Leben wurde. Der ländliche Raum als Ort der Entspannung, der Ruhe, der Entschleunigung. Das gilt im Grunde bis heute.
Diese Dichotomie von Rückständigkeit und Idylle verrät ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. Wie viel Anteil hat denn Ihre Disziplin, die Geografie, daran?
In der deutschsprachigen Geografie wurde der ländliche Raum lange Zeit wenig beachtet. Die Geografie schaute dorthin, wo Veränderung wahrgenommen wurde, und das waren die Städte. Auf das Land hat sie aus der Perspektive der Stadt geschaut. Auch die Universitäten befinden sich ja in den Städten, die Forscherinnen und Forscher leben in den Städten, das Geld für die Forschung kommt aus der Stadt.
Im englischsprachigen Raum ist das anders, sagen Sie.
Da gibt es die Tradition der Rural Studies. Wir sehen da ein großes Interesse, auch an den strukturellen Hintergründen der Entwicklungen in ländlichen Räumen. Wenn nun auch in Deutschland aufs Land geschaut wird, hat das viel mit den Wahlerfolgen der AfD zu tun. Da fragen sich manche: Haben wir da was übersehen?
Also eher ein Reagieren als eine Paradigmenwechsel in der Geografie?
Ein Paradigmenwechsel ist es noch nicht. Aber das Thema ist inzwischen da, auch auf dem Geografiekongress in Frankfurt. Das ist dann immer ein Gradmesser. Wenn ich da ländliche Räume als Suchbegriff eingebe, kommt da eine ganze Menge. Das zeigt schon, dass sich etwas verändert. Bis das aber vom wissenschaftlichen Kontext der kritischen Landforschung in den politischen Bereich ausstrahlt, dauert es.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Was muss ich mir unter kritischer Landforschung vorstellen? Ist das eine Reaktion auf die Engführung des Blicks in der Mainstream-Geografie?
Es ist zum einen eine Antwort auf Anstöße aus dem englischsprachigen Raum. Und auch darauf, dass der Fokus auf die Stadt alleine nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht. Noch immer lebt die Hälfte der Menschen in Deutschland in ländlichen Räumen.
Und institutionell? Ist kritische Landforschung ein Netzwerk von Forscherinnen und Forschern, die nun die Perspektive wechseln wollen?
Es gibt inzwischen schon einige Forscherinnen und Forscher, die man in diese Richtung einordnen kann und die dazu auch veröffentlichen. Es gibt auch eine Reihe beim Transkript-Verlag dazu. Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigt sich mit dem Thema. Aber es ist bei Weitem nicht das, was es an kritischer Stadtforschung gibt.
Welcher Begriff von Land liegt Ihrer Forschung zugrunde?
Grundsätzlich kann man vielleicht sagen, dass der ländliche Raum noch nicht so umfangreich theoretisiert ist wie die Stadt. Und natürlich gibt es auch nicht den ländlichen Raum, deswegen sprechen wir auch im Plural von ländlichen Räumen. Denn die Spannbreite ist sehr groß.
Von den kleinen Dörfern in Brandenburg bis zur Agglomeration in Nordrhein-Westfalen, wo man nicht weiß, ob man sich noch im Speckgürtel der Stadt A oder schon im Speckgürtel der Stadt B befindet?
Das macht es auch so schwer, den Begriff des Ländlichen zu definieren und zu fassen. Das Thünen-Institut versucht es mit harten Indikatoren wie Bevölkerungsdichte oder der räumlichen Distanz zu größeren Zentren. In der kritischen Landforschung sehen wir aber auch die Dynamik und die Konstruiertheit dieses Begriffs. Das sind ja keine festen oder gar naturgegebenen Kategorien, sondern Ergebnisse gesellschaftlicher Prozesse, Zuschreibungen und Diskurse. Räume sind nicht einfach nur, sie entstehen durch gesellschaftliche Praxis und politische Entscheidungen.
Spielt auch soziale und kulturelle Homogenität und Heterogenität eine Rolle? Wenn ich an Georg Simmel und seine Tradition der Stadtsoziologie denke, ist Stadt vor allem der Ort, wo Fremde aufeinandertreffen. Wenn das Land dagegen der Ort ist, wo man sich kennt, würde das ja auch für homogene städtische Quartiere wie den Prenzlauer Berg in Berlin zutreffen. Ich selbst schreibe ja manchmal scherzhaft von der Verdorfung der Stadt.
Deswegen komme ich bei solchen Definitionen immer ins Grübeln. Henri Lefebvre beispielsweise sieht eine umfassende Urbanisierung der Gesellschaft, weil er das Urbane darüber definiert, dass Differenzen aufeinandertreffen. Das haben wir mehr und mehr auch in den ländlichen Räumen.
Unsere Bilder von Stadt und Land haben sich dieser Realität aber noch nicht angepasst.
In vielen Fällen leider nicht, sie scheinen in Stein gemeißelt. Dabei sind ländliche Räume genauso wie urbane von aktuellen dynamischen Prozessen wie Digitalisierung, Strukturwandel oder eben Wanderungsbewegungen betroffen. Gerade die Politik spielt da auch eine große Rolle. Welche Infrastrukturen werden geschaffen? Wird der Schienenverkehr ausgebaut? Wird das Schwimmbad gebaut? Gibt es eine Bibliothek? Welche Arbeitsplätze werden geschaffen? All das sind Faktoren, die Menschen bewegen, dort hinzuziehen oder auch nicht. Wenn die Politik da nicht aktiv ist, entstehen Versorgungslücken, die von rechten Strukturen besetzt werden können. Das wiederum kann dazu führen, dass andere sagen: Da möchte ich nicht mehr leben.
Haben Sie das selbst erlebt?
Nicht persönlich, aber ich kenne Leute, die haben versucht, in einer Region Fuß zu fassen, und sind dabei gescheitert. Entweder sind sie richtig aktiv rausgedrängt und angefeindet worden. Oder aber sie haben festgestellt, dass sie keinen Anschluss kriegen.
Allerdings muss man, gerade als Städter, das Landleben auch lernen. Wie war das denn bei Ihnen? Sie arbeiten zwar an der Uni Bayreuth, leben aber in einem Dorf auf dem Land.
Ich wohne mit vielen anderen in einer Wohngemeinschaft auf einem ehemaligen Bauernhof mitten im Dorf. Unsere Nachbarn wohnen da schon seit Generationen. Aber außenrum werden gerade Neubausiedlungen für Einfamilienhäuser geplant.
Funktioniert das mit der Nachbarschaft?
(lacht) Ich hab den Nachbarn am Anfang tatsächlich kaum verstanden, weil er sehr Dialekt spricht.
Sie selbst sind in Hamburg geboren.
Und in Geesthacht, einer Mittelstadt nahe Hamburg, und im Wendland aufgewachsen. Da habe ich dann auch das Dorfleben kennengelernt. Aber ich habe das Leben auf dem Land als etwas Positives erlebt, vielleicht weil ich auch als Jugendliche immer die Option hatte, auch in der Stadt zu leben. Aber lernen musste ich das dann auf dem Dorf in Oberfranken tatsächlich, wenn auch nur sprachlich.
Sie hätten auch in Bayreuth in die Stadt ziehen können.
Außer in Frankfurt, wo ich nach Bayreuth studiert habe, und ein paar Monate in Berlin hab ich nie länger in einer Großstadt gelebt. Mir hat das Ländliche bei Bayreuth gut gefallen, wir haben einen großen Garten. Am Anfang war es eine Studierenden-WG, aber jetzt studiert schon seit Jahren keiner mehr von uns. Trotzdem sind wir im Dorf immer noch „die Studenten“.
Ein Lernprozess war das dann auch für Ihren Nachbarn.
Der ist in seinem Denken sehr konservativ. Wir haben da schon unseren Status im Dorf. Aber trotzdem werden wir respektiert und zu Dorffesten eingeladen. Und einmal im Jahr machen wir ein großes Hoffest, wo wir auch die Nachbarschaft einladen. Da kommt dann auch die Dorfjugend. Allerdings erst um drei Uhr morgens, wenn sie schon betrunken sind. Aber dann sitzen sie mit uns am Lagerfeuer und spielen Gitarre.
Sie kommen also nicht, um Randale zu machen.
Nein. Das klappt gut. Auch mit dem Nachbarn. Er ist pensionierter Landwirt. Mit dem diskutieren wir über die Kirche, über die Grünen. Da haben wir sehr unterschiedliche Haltungen, und trotzdem ist ein Austausch da. Das ist es, was ich an diesem Leben im Dorf auch schätze. Natürlich bin ich auch in meiner Blase, das will ich gar nicht leugnen. Ich kriege aber auch mit, was die Menschen vor Ort beschäftigt.
Erscheinen Ihnen da manche dieser typisch urbanen Diskurse weit weg in diesen Momenten?
Persönlich eher nicht. Aber ja, es gibt da sicher ein Unverständnis im Dorf, warum Themen wie gendergerechte Sprache einen so großen Raum kriegen in der Politik. Aber das hat nicht nur mit dem Gegensatz von Stadt und Land zu tun, das ist auch eine Generationenfrage. Es ist eben nicht so schwarz-weiß. Da müssen wir aufpassen, dass wir da nicht einen Gegensatz aufmachen, wo dann die AfD für sich behaupten kann, sie sei die Partei für den ländlichen Raum.
Heißt das, dass der Stadt-Land-Diskurs nicht taugt, um Wahlverhalten zu analysieren? In Brandenburg ist die AfD nach Umfragen stärkste Partei, in den Berliner Innenstadtbezirken sind es die Grünen.
Zu sagen, das Dorf wählt rechts, wäre zu einfach. Ich würde solche Wahlergebnisse nicht den Raumkategorien zuschreiben, sondern den gesellschaftlichen Prozessen und strukturellen Problemen, die dahinterstehen.
Das taugt als Ansatz in Brandenburg nur bedingt. Brandenburg hat die größte Wirtschaftsdynamik unter den Flächenländern, die Bevölkerung wächst nicht mehr nur im Berliner Speckgürtel. Brandenburg schreibt eine Erfolgsgeschichte, und dennoch ist die Unzufriedenheit groß. Woran kann das liegen?
Wenn man einmal die Erfahrung mit einem großen Strukturwandel gemacht hat, wenn man erfahren musste, dass es abwärts geht, kann das sehr prägen. Auch für die Einstellung, wie man neuen Herausforderungen gegenübersteht.
Sie würden also nicht sagen, dass das Wahlverhalten auf dem Land in erster Linie eine Reaktion auf die kulturellen Veränderungen ist, sondern eher auf die wirtschaftliche und ökologische Transformation, in der wir derzeit stecken.
Ich denke, es ist beides. Kultureller Wandel und die Verunsicherungen und Widerstände, die er bei vielen Menschen auslöst, tragen sicher auch ihren Teil dazu bei. Ich glaube aber, in erster Linie sind die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in peripheren Räumen dem Strukturwandel und einer politischen Vernachlässigung dieser Räume im Zuge anhaltender Neoliberalisierungsprozesse zuzuschreiben. Wenn nun Diskussionen über Wärme-, Energie- und Mobilitätswende geführt werden, präsentiert die Politik in erster Linie Lösungen für urbane Räume.
Ist das auch ein Widerstand gegen eine Art von Kolonisierung? Letztens hörte ich, wie eine Frau auf dem Land zu einem aus Berlin sagte, du findest Windräder doch nur gut, weil sie nicht bei dir stehen. Die Energiewende findet in Gestalt von Windparks und PV-Freiflächenanlagen physisch auf dem Land statt, aber die meiste Energie wird in der Stadt verbraucht. Darüber wird erstaunlich wenig diskutiert.
Das ist tatsächlich eine spannende Frage, die bisher zu wenig Beachtung findet, auch in der Wissenschaft: Wo findet die Transformation statt? Wer trägt sie? Das gilt ja nicht nur für die Energiewende, sondern zum Beispiel auch für Mobilität
Vom Deutschlandticket profitieren nur Pendler und die Menschen in den Ballungsräumen.
Und was lösen Diskussionen über ein Verbot von Verbrennungsmotoren bei einem aus, der wegen einem Mangel an Alternativen tagtäglich auf sein Auto angewiesen ist und kein Geld hat, sich ein Elektroauto zu kaufen?
Der steht plötzlich als Umweltsünder am Pranger.
Ich würde dennoch nicht von einem kolonialen Verhältnis sprechen. Was ich eher passend finde, wäre ein Begriff, der in der Literatur manchmal auftaucht, wo das als parasitäre Beziehung beschrieben wird. Aber dass da ein Ungleichgewicht da ist und dass da auch vor allem historisch betrachtet eine Form von Ausbeutung stattgefunden hat, ist eine Tatsache. Und dieses Gefühl der Ausbeutung ländlicher Räume und Bevorzugung der Städte, das ist gesellschaftliches Dynamit.
Was heißt das für die Transformation?
Sie wird nicht erfolgreich sein, wenn es nicht gelingt, die ländlichen Räume mitzunehmen und die Menschen vor Ort an dieser Transformation zu beteiligen. Da ist Energie ein gutes Beispiel. Warum nicht auch Stromversorgung und Netze in kommunale Hand geben? Warum nicht die Menschen davon profitieren lassen und Strompreise sozial staffeln? Wir laufen aktuell Gefahr, die Chancen einer dezentralen Energieversorgung in kommunaler Hand durch die Reproduktion bestehender Machtverhältnisse zugunsten der großen Stromkonzerne zu vertun.
Es gibt ja vor Ort schon kleine Bürgerenergiegenossenschaften?
Aber haben die den langen Atem, den es braucht, ein Windrad zu bauen, das erst in ein paar Jahren Gewinn abwirft? Das ein aufwändiges Genehmigungsverfahren hat? Und wenn die Versorgung dezentralisiert werden soll, bräuchte es einen anderen Netzausbau, als die Ressourcen in eine große Nord-Süd-Stromtrasse zu stecken.
Wir haben noch gar nicht über die derzeitigen Wanderungsbewegungen geredet, die das Verhältnis zwischen Stadt und ländlichem Raum noch einmal gehörig durcheinanderwürfeln können. Gerade erst hat eine Studie des Berlininstituts für Bevölkerung und der Wüstenrotstiftung herausgefunden, dass zwei Drittel aller Landgemeinden vom Zuzug aus den Städten profitieren. Es gibt für den ländlichen Raum also auch nach der Coronapandemie einen Wanderungsgewinn. Diejenigen, die jetzt aufs Land gehen, machen das ja nicht nur im Wochenendhäuschen, sondern bringen oft auch ihre Berufe mit. Da ändern sich doch auch die Bilder voneinander, oder?
Das wäre zu wünschen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung wäre eine neue Offenheit für den jeweils anderen wichtig. Fraglich ist aber auch, wie treffend die Betrachtung von zwei Lagern „Stadt“ und „Land“ hier ist. Viele der Zuwandernden sind selbst in ländlichen Räumen aufgewachsen und ziehen nun nach einer Zeit in der Stadt zurück aufs Land. Oder sie haben soziale Netzwerke wie Freunde und Familie dort. Und viele ländliche Räume sind nicht erst seit Corona Zuzugsgebiete und haben bereits sehr heterogene Sozialstrukturen.
Dennoch kommt es immer wieder zu Konflikten mit denjenigen, die jetzt aufs Land ziehen.
Ich denke, es ist immer wichtig und richtig, miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch wenn es vorerst nur ums Wetter oder die Reparatur des Aufsitzrasenmähers geht. Gesellschaftliche Konflikte stellen nicht zwangsläufig eine Bedrohung der Demokratie dar, ganz im Gegenteil. Deshalb dürfen wir nicht aufhören, einander zuzuhören. Und das geht am Gartenzaun oder beim Kita Gartenfest besser als in Talkshows und sozialen Medien.
Wann waren Sie zuletzt im Bierzelt?
Noch nie! Auch auf den Dorffesten hier im Ort meide ich die Bierzelte: zu laut, zu eng – und ich trinke keinen Alkohol. Das ist mir dann doch zu viel geballter bayrischer Dorfscharm …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen