Laienmusiker der Atomindustrie: Das einzige strahlende Orchester
"Wir sind auch nur Menschen". Das sagen Musiker aus der Atomindustrie, die vor 25 Jahren ein Laienorchester gründeten. Sie spielen auch gegen ein schlechtes Image an.
GRUNDREMMINGEN taz | Schwungvoll führt Dietmar Nieder seine Querflöte an den Mund, setzt sich mit dynamischen Schritten an die Spitze des kleinen Zuges und pfeift. Die Marschmusik klingt, als zöge ein Trupp von Südstaatensoldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg den Yankees entgegen. Hinaus in Feindesland, das derzeit überall ist, nur nicht hier. Herrlich die Natur! Und auch das Atomkraftwerk stört nicht, im Gegenteil. Dietmar Nieder und seine Leute lassen sich gern davor fotografieren. Alle haben ein Musikinstrument in der Hand.
Die gut 35-köpfige Gemeinschaft ist die "Camerata Nucleare", ein Laienorchester von "Technikern, Kaufleuten und sonstigen Berufen aus allen Bereichen der Energiewirtschaft", wie die Homepage der "Camerata Nucleare" erklärt. Gegründet wurde das Orchester 1986, drei Wochen vor der Atomkatastrophe von Tschernobyl, auf Initiative von Reinhardt Ettemeyer, dem Technischen Geschäftsführer des Atomkraftwerks Gundremmingen. Das Ziel war es, so verkündet die Camerata, "die musikalischen Talente von Beschäftigten in der Kerntechnik und der gesamten Energiewirtschaft zu fördern und zusammenzuführen". Das Emblem des Orchesters ist eine Geige, um die, angelehnt an das international bekannte Atom-Zeichen, drei Elektronen auf ihrer Umlaufbahn schwirren. Auch im Wappen von Gundremmingen sind diese Umlaufbahnen zu sehen.
Es ist ein strahlender Samstagmorgen. Vor der "Revisionsbaracke", die sonst zur Versorgung auswärtiger Mitarbeiter bei Revisionen, also jährlichen Überprüfungen des AKW, genutzt wird, hat ein Dutzend Autos der höheren Preisklasse geparkt. Die Kennzeichen weisen ihre Besitzer als Deutsche, Schweizer und Österreicher aus, sogar aus Ungarn und Frankreich kommen Orchestermitglieder.
Männer mit Hörgeräten
Man ist vertraut miteinander. Die Begrüßung untereinander - meist sind es Männer im Pensionsalter, manche mit Hörgeräten - ist herzlich. 25 Jahre musizieren viele nun schon zusammen. Routiniert üben einige "Cameraten", wie sie sich ab und zu intern nennen, vor dem Erscheinen des Dirigenten ein paar schwierige Passagen. Während dieser kurzzeitigen Kakofonie betont Rudolf Rieser, dass hier doch "ganz normale Menschen" zugange seien. Und, ergänzt der 69-jährige Pensionär und frühere Ingenieur der Bayernwerk AG, die meisten seien "aus Überzeugung für die Kerntechnik - Fukushima hin oder her".
Die "Camerata Nucleare" trifft sich in der Regel vier- oder fünfmal im Jahr an Wochenenden zu Proben, Auftritte gibt es meist nur zwei pro Jahr - wobei einer praktisch gesetzt ist: Es ist die "Jahrestagung Kerntechnik" der Kerntechnischen Gesellschaft und des Deutschen Atomforums. Mehrmals nennt der Dirigent Jaroslav Opela, weißhaarig und braun gebrannt, diese beiden Institutionen der Atomwirtschaft halb ironisch, halb ernst die "Obrigkeit".
Diese "Obrigkeit" habe nach Fukushima "Schiss bekommen", ob die Jahrestagung überhaupt noch stattfinden sollte, erzählt der 75-jährige Dirigent Prager Herkunft. Man habe schließlich beschlossen, die Tagung zu veranstalten, jedoch den üblichen Empfang aus Gründen der Pietät oder so abzusagen. Das versteht der energetische Chefmusiker nicht recht. Schließlich sei so ein Treffen mit einem Gläschen Sekt doch keine Verhöhnung der Opfer. Außerdem gehe das normale Fernsehprogramm ja auch weiter - "bis zum Bumsen", wie er deftig und mit charmantem tschechischen Akzent ergänzt.
Immerhin, das Programm des Orchesters für die Jahrestagung wurde auf Wunsch der "Obrigkeit" aufgegeben, auch wenn es so gut zum geplanten Motto des Abends, "Österreich", gepasst hätte: Statt Operettenmusik wie etwa "Ich bin die Christel von der Post" von Carl Zeller soll nun etwas getragenere Musik auf der Tagung erklingen: Mendelssohn, Haydn, Mozart - und als Zugabe etwas von Brahms.
Souvenir-Nippes
Die Proben finden in einem Saal der Revisionsbaracke statt. An einer Wand sind Vitrinen eingelassen, die mit allerlei Souvenir-Nippes gefüllt sind: Teller, Wimpel, Bierkrüge und Fotos. Die erinnern an Begegnungen etwa von Bläsern oder Fußballern aus dem AKW mit auswärtigen Kapellen oder Mannschaften. Die Bilder von anderen Atomkraftwerken zeigen, wie friedlich und schön die Atomkraft hier gesehen wird.
Ein rotes Fußballerhemd, übersät mit Autogrammen, haben befreundete AKW-Mitarbeiter im Nebenraum, einer Art Wirtshausstube mit Theke, in einem Rahmen hinter Glas geklemmt. "Unseren Freunden aus Gundremmingen. Die Fußballer des Gemeinschaftskernkraftwerks Neckarwestheim. 10. Juni-12. Juni 2005" steht auf einem Messingschildchen darunter.
Die Proben beginnen. Bald wird trotz allen Engagements des Orchesters klar, wie verwöhnt man durch die auf CD gebrannte Kunst der Spitzenorchester unter Stardirigenten wie etwa Sir Simon Rattle ist. Dirigent Opela führt das Orchester mit vollem Körpereinsatz, stoppt es immer wieder. "Ihr spielt so robust", sagt er, "nicht so verbissen." Vor vielen Jahren, recht am Anfang der Geschichte des Orchesters, hat das ZDF einmal einen fiesen Beitrag über die Camerata gedreht, erinnert sich Opela. Über Bilder vom musizierenden Orchester wurden mit einer fremden Stimme erfundene Dirigieranweisungen gesprochen, etwa: "Die erste Geige muss mehr strahlen!" Eine Persiflage!
Wegen der Programmänderung wird die Oboe von Dieter Ehlermann nicht mehr gebraucht. Der Physiker, 73 Jahre alt, schwärmt von seiner früheren Forschungsarbeit. Sie bestand vor allem darin, Lebensmittel zu bestrahlen - um nachher zu schauen, ob sie genießbar sind und ob dies eine gute Konservierungsmethode sein könnte. Zu erforschen war auch, was bei einem Atomunfall oder nach einem Atomschlag noch genießbar sein könnte: Unter Umständen hätte man Äpfel noch essen können, wenn man die Schale etwas dicker abgeschnitten hätte, sagt der Physiker. Ehlermann ist einer der Wenigen, die sich an diesem Tag etwas Selbstironie bewahrt haben. "Wir sind das einzige strahlende Orchester der Welt", sagt er.
In der Mittagspause versammeln sich die Musikerinnen und Musiker in der Stube an Holztischen unter dem Fußballer-Trikot. Schwere bayerische Kost wird aufgetischt, Schupfnudeln in Kraut und Speck sowie rund dreißig Schweinshaxen am Knochen. Hans-Jürgen Goebelbecker betont vor seinem Teller, dass das Orchester gemeinnützig sei, es keine Grundfinanzierung durch die Energiewirtschaft gebe - und man natürlich auch Leute der regenerativen Energien aufnehmen würde: "Wir haben da keine ideologischen Schranken, nicht im Geringsten!"
"Keine Unmenschen"
Zwar komme man "aus der nuklearen Ecke", sagt Goebelbecker, und "da stehen wir auch dazu". Das Orchester aber sei "nicht die verlängerte Werkbank" der Atomwirtschaft. Es gehe auch darum zu zeigen, dass die Mitarbeiter in der Atomindustrie "keine Unmenschen" seien, keine brutalen Schergen wie die, die in den letzten 20 Minuten eines James-Bond-Films aufträten: "Wir sind auch Menschen", sagt Goebelbecker - nach dem Motto eines Sting-Songs: "The Russians love their children too". Das Selbstbewusstsein war hier schon mal besser. Immer wieder zeigen die Musiker sich gegenseitig Zeitungsartikel, die die Atomenergie verteidigen und die Probleme der regenerativen Energien beschreiben. Rieser sagt, es tue "schon weh", mit Tschernobyl und Fukushima "in weltweiter Sippenhaft" zu landen.
Nach der Mittagspause gibt es eine Mitgliederversammlung, Öffentlichkeit ist unerwünscht - "schon aus formalen Gründen", wie Goebelbecker unterstreicht. Man will sich darüber einig werden, wie es nun nach Fukushima weitergeht. Kurz nach der Katastrophe in Japan hatte es bereits eine Probe gegeben. Damals beschloss die Camerata weiterzumachen, der Musik zuliebe.
Einer, der im Vorfeld des damaligen Treffens per E-Mail für ein "Weiter so" plädierte, war der Flötist Nieder. Er steht mit seinen 50 Jahren für die jüngere Generation im Orchester. In der "Kernenergie-Entsorgung" ist er tätig. Nieder gibt sich Mühe zu erklären, warum so ein Unfall wie in Japan hier in Deutschland nie passieren könne und wie schlecht das dortige Krisenmanagement war. "In einigen Jahrzehnten" werde man im jetzigen Sperrgebiet rund um das havarierte Atomkraftwerk auch wieder leben können. Auch wenn er das nicht verharmlosen wolle und "jeder Toter in der Kernenergie einer zu viel ist", so werde doch die Zahl der Opfer dort "überschaubar" sein. Tja, und "Angst um die Arbeit muss man sich schon machen", räumt er ein, auch wenn Entsorgung so oder so noch lange gefragt sei.
Die Mitgliederversammlung ist nach etwa einer Stunde beendet - alle wirken erleichtert. Die Fortexistenz des Orchesters wurde bekräftigt, nur soll der Name etwas in den Hintergrund rücken. Man will fortan öfter auf einen anderen Namen zurückgreifen, den man schon länger hat und immer dann nutzt, wenn "Camerata Nucleare" für manche dort draußen vielleicht zu abschreckend wirke: "Sinfonia E". E steht für: Energiewirtschaft.
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