■ Lafontaine steht, ob er will oder nicht, für einen Lagerwahlkampf. Aber der ist nicht zu gewinnen. Deshalb braucht die SPD Schröder: Der Irrtum des Polarisierens
Ab Sonntag abend ist es vorbei mit der Vordergründigkeit von Wählerprozenten und Kandidatengetue. Das von der SPD-Führung verhängte Diskussionsverbot wird um 18 Uhr aufgehoben. Dann steht die Partei vor ihrer Grundentscheidung im Wahljahr: Polarisierungs- oder Auflockerungsstrategie. Einen ernst gemeinten Lagerwahlkampf, bei dem Rot-Grün gezielt und arbeitsteilig auf den Machtwechsel hinarbeitet, will ja keiner der beiden Kandidaten. Schröder wie Lafontaine wollen die SPD stark machen und sich koalitionspolitisch alle Optionen offenhalten.
Unterhalb dieser Ebene aber sind die gegensätzlichen Rollen festgelegt. Lafontaine kann nur die Polarisierungs-, Schröder nur die Auflockerungsstrategie. Was soll eigentlich das Wählerroulette von Hannover? Verspricht eine Polarisierungsstrategie bei der Bundestagswahl einen besseren Erfolg, dann müßte Lafontaine Kandidat werden, auch wenn Schröder am Sonntag ein Prozent zulegt. Umgekehrt müßte man für Schröders Auflockerungsstrategie auch dann sein, wenn er in den Minusbereich abrutscht.
Die SPD kam 1969 nicht durch einen Lagerwahlkampf ins Kanzleramt. Eher durch ihr Spiel mit mehreren Karten, den begrenzten Konflikt mit der CDU über die DM-Aufwertung, eine vorsichtige Anpassung an den damaligen Zeitgeist eines Aufbruchs, dessen Richtung noch zu definieren war, und durch das Offenhalten koalitionspolitischer Entscheidungen.
Es gibt in den bundesdeutschen Wahlkämpfen kein Beispiel erfolgreicher Polarisierung, wenn sie von der Opposition betrieben wird. Kurt Schumacher scheiterte 1949, Franz Josef Strauß 1980 und Oskar Lafontaine, ein Polarisierer aus Überzeugung, folgte 1990. Dagegen stehen erfolgreicher Beispiele der Polarisierung aus der Regierung heraus, so Adenauer 1953, Brandt 1972, Kohl 1994.
Manchmal wird Angriff mit Polarisierung verwechselt. Ein bißchen Angriff muß für eine Opposition, die Regierung werden will, eigentlich immer sein. Nur 1961 und 1965 war die SPD mit dem Schlafwagen zur Macht unterwegs. 1966 kam sie in der Großen Koalition an. Aber normalerweise kann man nicht nur sich selbst präsentieren, man muß seinen Gegner auch ein bißchen attackieren, sonst schalten die Leute (den Fernseher) ab. Schröder greift Kohl nicht weniger polemisch an, als es Lafontaine tut.
Polarisierung ist aber eine besondere Form von Angriffswahlkampf. Sie meint Betonung einer hohen ideologischen Distanz zum politischen Gegner. Entweder man stellt ihn unter Ideologieverdacht und schiebt ihn aus der Mitte in eine Außenposition, wie das bei der Rote-Socken-Kampagne der CDU geschah. Oder man attackiert von einem linken bzw. rechten Ende den Gegner so, daß es zumindest so aussieht, als stehe er am anderen Pol. Dabei muß die programmatische Alternative keineswegs umfassend sein. Zu Zeiten Schumachers stimmte die SPD nur bei 6 Prozent aller Gesetze gegen die Bundesregierung – dennoch entstand der negative Eindruck hochgradiger Polarisierung.
Es gibt einen Legitimitätsvorsprung der Regierung auch dann, wenn sie eine Polarisierungsstrategie verfolgt. Für die Opposition dagegen enthält sie ein hohes Risiko. Warum? Viel hängt von der Wahl des Politikfeldes ab.
Außenpolitik ist generell ungeeignet für Polarisierung. Man kann – als Opposition – mit Außenpolitik keine Wahl gewinnen, aber man kann sie mit ihr verlieren. Dies gilt für alle drei Polarisierungsfälle seit 1949. In der Außenpolitik gibt es strukturelle Handlungs-, Informations-, meist auch Legitimierungsvorteile der Regierung. Das hat die SPD gelernt. Unabhängig vom Kandidaten hat sie jetzt den Euro ausgeklammert und die Regierung im Irakkonflikt vorauseilend unterstützt.
Bei anderen Politikfeldern gilt: Man verliert einen Polarisierungskonflikt als Opposition, wenn man den Angriff in einem Bereich vorträgt, der zu den Stärken des Gegners zählt. Wenn man zum Beispiel eine Oppositionspartei CDU auf dem Feld des Sozialen gegen eine SPD-Regierung polarisieren würde. Oder wenn eine Oppositionspartei SPD gegen eine CDU- Regierung auf dem Feld der Wirtschaftspolitik polarisiert. So die Erfahrung von Schumacher 1949, die von Lafontaine 1990 und dessen Versuchung 1998, mit dem Gestus einer „ganz anderen Wirtschaftspolitik“, bei der die sekundären Referenzen, an denen sich viele – mangels Kompetenz – orientieren, dagegen stehen: die herrschende Meinung der Wirtschaftsexperten und das Kapital.
Geschlossenheit der eigenen Partei ist eine notwendige Voraussetzung erfolgreicher Polarisierung. Genau daran fehlte es aber bei Strauß und Lafontaine. So wurde die Glaubwürdigkeit dieses Kurses schon durch die eigene Formation widerlegt. Sie würde auch 1998 fehlen, allein schon deshalb, weil Schröder als Kronzeuge des Gegenteils auftritt.
Die Themen der Polarisierung müssen weithin geteilter Überzeugung entsprechen, wenn die Opposition damit landen will. Das fehlte bei der grundlegenden Kritik von Westbindung, Marktwirtschaft, Ostpolitik, Wiedervereinigung. Auch heute glauben die meisten nicht, die SPD könne die Arbeitslosigkeit radikal senken. Wir leben in der Zeit eines verbreiteten Zweifels an einfachen Lösungen und unerschütterlichen Überzeugungen. Die meisten Wähler können sich zur Wahl einer Partei nur noch als Entscheidung für das kleinere Übel durchringen. Kleine Schritte interessieren sie mehr als große Anklagen und Versprechungen.
Der wichtigste Einwand gegen eine Polarisierungsstrategie der SPD sind die nicht beabsichtigten Wirkungen. Zum einen hilft sie der Mobilisierung des bürgerlichen Lagers mehr als der Mobilisierung der sozialdemokratischen, in Ideologie und Interesse vielfältig gespaltenen Wählerschaft. Zum anderen forciert sie die Umverteilung zwischen Rot und Grün mehr als die zwischen CDU und SPD. Sie verpaßt die Wechselwähler und viele Unentschiedene, die sich eher in kleinen als in großen Schritten von ihrer alten Position entfernen wollen. Und sie verschärft die Konkurrenz zu den Grünen. 1990 siegte Lafontaine gegen die Grünen, aber nicht gegen die CDU.
Polarisierung ist im Große-Koalitions-Staat der Bundesrepublik ein Täuschungsmanöver. Einer Scheinpolarisierung durch die Sprache des Wahlkampfs entsprechen keine politisch folgenreichen Unterschiede. An eine „ganz andere Politik“ glaubt keiner, und sie will auch keiner von denen, auf die es bei einem Machtwechsel ankommt. Joachim Raschke
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