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Lärmende Wanderdüne

Die taz führt an die wahrhaft bösen Orte dieser Stadt, Teil 10: die Sielbauarbeiten vor der eigenen Haustür  ■ Von Eberhard Spohd

Das Unglück nähert sich langsam aber beständig. Bereits Wochen vor Eintritt des Erwarteten beginnt das große Zittern: Wann wird das Haus erstmals unter den Schlägen der Dampframme beben, wann wird einem erstmals der freie Tag bereits morgens um sieben Uhr gründlich versaut? Denn langsam wie eine Wanderdüne rollt die Lärmfront durch unsere Straße. Sielbauarbeiten stehen an.

Eigentlich kann man den tapferen Abwasserkanälen keinen Vorwurf machen. Zum Teil haben sie über hundert Jahre klaglos und gewissenhaft unsere Badezusätze, Abwaschwasserreste, vergorene Milchbröckchen und Exkremente in Richtung Klärwerk mitgenommen. Jetzt sind sie müde geworden, kommen aufs Altenteil und müssen ersetzt werden. Aber warum immer in meiner Straße?

Dreimal bin ich in den letzten sechs Jahren umgezogen. Stets folgten mir die Bagger. Inzwischen weiß ich, was es bedeutet, wenn ein Brief der Hamburger Stadtentwässerung ins Haus flattert. Wenn die Fräsen beginnen, den Asphalt aufzusägen. Wenn der Caterpillar durch die Straße rumpelt. Wenn die Dampframme zur Stabilisierung des ausgehobenen Grabens Metallstellen in den Grund donnert. Und wenn sich die Arbeiter in ihren Pausen lautstark über die sekundären Geschlechtsmerkmale vorübergehender Passantinnen austauschen.

Immer mehr nähert sich die Grube, in der über Wochen der ruhige und übrigens äußerst gesunde Morgenschlaf beerdigt werden wird. Und irgendwann erreichen die Maschinen das eigene Haus. Es beginnt damit, dass sich die Oberfläche in der Teetasse leicht kräuselt. Später beginnt das Geschirr im Küchenschrank leise zu klirren. Spätestens jetzt sollte man über einen vierwöchigen Urlaub nachdenken. Denn auf einmal bewegt sich der Boden. Der Computerbildschirm flackert. Der ganze Schreibtisch hüpft, und die Bücher in den Regalen wandern nach vorne und stürzen zu Boden. Alle Auswirkungen eines leichten Erdbebens stellen sich ein. Werktäglich von sieben Uhr morgens bis 17 Uhr am Nachmittag.

Inzwischen ist die Karawane der metallenen Dinosaurier weitergezogen. Plötzlich stellen sich die angenehmen Nebeneffekte ein. Unsere Straße ist weiterhin für den Durchgangsverkehr gesperrt. Nächtens herrscht gnadenbringende Ruhe. Man kann sogar bei geöffnetem Fenster schlafen. Das allerschönste aber: Mein Lieblingsfeind wohnt die Straße hoch, 20 Häuser weiter. Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit fahre sehe ich ihn am Fens-ter stehen, mit Rändern unter den Augen. Müde starrt er in das tiefe, tiefe Loch, das sich vor ihm auftut.

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