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Lady Sings The Blues

Kommenden Freitag entscheidet sich in Kiel, wer für Deutschland zum Grand Prix fahren darf. Auch Joy Fleming tritt wieder an – die große Verkannte des deutschen Musikgeschäfts

von JAN FEDDERSEN

Eine Stunde bleibt noch Zeit. Eben noch am Hauptbahnhof für RTL posiert, jetzt mit einer Taxe zurück zum Hotel Hafen Hamburg. Alles ist perfekt geplant. Joy Fleming steigt aus dem Auto und wirkt wie die Ruhe selbst. Sie sagt auf die Frage, ob sie sich nicht sorge, wenn der Rummel über sie hereinbricht: „Was soll mer passiern? Alles is geregelt.“

Fünfhundert Schritte sind es vom Hotel zum Schmidt’s Tivoli, dem alternativen Revuetheater auf der Reeperbahn. Etwas frisch machen, um eine Stunde vor Mitternacht sich dort Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen vorzustellen. Als eine von einem Dutzend Kandidaten, die sich Ende Februar in Kiel um den Sieg beim deutschen Vorentscheid für den Grand Prix Eurovision bewerben.

Diese Show am 22. Februar wird ein Ereignis in der deutschen Unterhaltungsbranche, das selbst gut eingemottete Schlagerloser wie Bernhard Brink nicht ungenutzt verstreichen lassen wollen. Denn zehn bis zwölf Millionen Zuschauer, die hat auch einer wie er nicht alle Tage.

Aber Joy Fleming hat mehr im Sinn, obwohl sie auch nicht gerade mit televisionärer Präsenz gesegnet ist. Sie, die an diesem späten Abend noch einmal durchschnauft, wird keineswegs nur deshalb mitmachen, um einfach dabei zu sein. Sie wittert einen letzten Triumph und sagt trotzdem: „Ich geb mer Müh, singe kann ich ja, das sage alle, und dann gucke mer mal, was dabei herauskommt.“

Im Jahr zuvor hatte sie, ohne besonderen Marketingvorlauf im Fernsehen oder in den Klatschspalten der Boulevardpresse, hinter der Siegerin Michelle den zweiten Platz geschafft – über dreihunderttausend Stimmen erhielt sie, nur wenige tausend weniger als die Sängerin von „Wer Liebe lebt“.

Und dieser Zuspruch ließ Schlüsse zu, vor allem bei Johannes Kram, dem „Erfinder“ der Joy Fleming der Jetztzeit. Kram, der 1998 die Kampagne für Guildo Horn („Mein Kreuzzug der Liebe“) wesentlich am Leben hielt, kam auf die Mannheimerin, als er in die deutsche Vorentscheidung mit einem Act wollte – aber ihm fehlte es an einer Plattenfirma, die ihn mit einem Künstler betraut.

Also setzte er aufs Internet. Dort wurde die Fleming unangefochten als Interpretin für „The Power Of Trust“ gewählt. Und damit schnitt sie so gut ab. Hatte dies zu bedeuten, dass man sie wählt, weil sie einfach gut singt? Oder etwa, dass man sich an sie erinnert, weil sie in den Siebzigerjahren Titel wie „Neckarbrückenblues“ oder „Ein Lied kann eine Brücke sein“ sang? Dass sie jene ist, die mit einem Stimmvolumen gesegnet ist, das für Soul reicht und für das, was man für Blues hält? Möglicherweise fand ihr Vortrag auch allein deshalb Gefallen, weil man sie gering geschätzt hatte – tolle Stimme, aber zickig. Und weil sie überhaupt, wie sie ja selbst immer sagt, „ei altes Showpferd is, das immer wieder in die Manege geht“, also durch Clubs tingelt und selbst Schützenfeste nicht scheut, wenn denn die Gage stimmt: „Daher kenne mich die Leit’, das spür ich immer wieder.“

Eine Dreiviertelstunde ehe sie sich der Meute auf der NDR-Party stellt, zupft sie sich noch etwas zurecht. Hier ein Strähnchen einen Zentimeter weiter gelegt, dort die Nase etwas nachgepudert und die Lippen dunkelrot nachgezogen. Nein, sie schwört, nicht wie früher gehässige Dinge über die Rivalinnen zu sagen. Nicht wie vor Jahresfrist, als sie Michelles Song „Wer Liebe lebt“ an passender (im privaten Kreis) oder unpassender Stelle (in der erweiterten Öffentlichkeit) mit der Zeile „Wer Lieder quält“ parodierte.

Das machte sie übrigens exzellent, der Song mutet mit ihrer Stimme an wie eine unplugged Ballade aus dem Motownstall ohne dessen Geigenüberzuckerung. „Alle habe gute Lieder“, sagt sie nun, ohne diese zu kennen, „ich möchte gut singen. Und ich tät mich freue, wenn ich gewinne sollte.“ Fest sitzt sie in ihrem Hotelsessel und scheint sich nicht drum zu scheren, dass für alle anderen in ihrer Entourage ein Wort wie vergifteter Mehltau sich über die ganze gute Stimmung gelegt hat: Kellys.

Genauer gesagt: der singende Teil der überwiegend in und bei Köln beheimateten Familie Kelly, die ebenfalls in Kiel um das Ticket nach Tallinn singen wird. „Die haben soundso viele Adressen in der Kartei“, raunt es hier, „die räumen alles ab“, sagen andere. Joy Fleming ficht das offenbar nicht an: „Die Kellys. Ja. Aber singe müsse die auch.“

Ein entscheidender Satz aus der Welt der Joy Fleming: Singen wie sie kann hierzulande keine. Als Kind habe sie in Mannheim „so beim Putze“ gesungen, und ihre Mutter habe aus dem Wohnzimmer gerufen, „Ernalein, wer singt dann so schee aus dem Radio“. Dann „hab ich mei Mutter gesagt, ich wär das, und sie hat gesagt, ei, du hascht ja a tolle Stimme“. Nur wenig hat die Fleming über ihre Kindheit verlauten lassen. Sorgen und Armut, vom Vater geschlagen, „und gehungert haben wir auch, dann gab’s Zuckerbrot, wenn überhaupt“. Aber mit erschütternden Geschichten aus einer lieblosen Kindheit sich das Mitgefühl aller Medien (von Biolek bis Bild) sichern, wie Michelle vor einem Jahr, das käme nie in Frage.

Und im Glamour zu baden, selbst das Objekt von Fernsehkameras zu werden, das stand nicht in ihrem Programm. Aufgewachsen in kleinen Verhältnissen, keine Lust auf die Schule, Ausbildung zur Lebensmittelverkäuferin – aber immer mit dem Wissen im Kopf, eine Stimme zu haben. Erste Kontakte zu Bands, Teilnahmen an Nachwuchswettbewerben – die sie alle gewann, egal mit welchen Songs. Erna Strube, die noch nicht Joy Fleming war, erkannte schnell, dass sie aber in die Welt des Schlagers nicht hineinpasst. Diese Sorte Musik, die war für Mädchen, die neben einem Talent zur singenden Darstellung vor allem das Kapital gefälligen Aussehens und umgänglicher Manieren auf ihrer Seite wussten.

Joy Fleming hingegen hatte die Sprache der Straße gelernt, roh und direkt, Mannheimerisch, und zugleich das Amerikanisch der GIs. Sie sang, was eben so angesagt war, ohne Sinn für ein Repertoire, für ein zu bildendes Künstlerinnenprofil. Immerhin waren Plattenbosse auf sie aufmerksam geworden, man suchte Begabungen der anderen Art, es waren die späten Sechzigerjahre, und die Zeit der flotten Bienen und kessen Girls war vorbei, ihre Platten mehr und mehr unverkäuflich.

Gesucht wurde kein bestimmter Typ, aber überhaupt ein Typ.

Und Joy Fleming war so einer. So eine kannte man in hiesigen Castingbüros nur aus Amerika. Die hießen Gladys Knight. Oder Grace Slick. Aber diese Stimme kam aus Mannheim. Eine, die scatten konnte und wispern, in der Höhe nicht abbrach und in der Tiefe das Futter ahnen ließ, das es braucht, um dieses Organ am Leben zu halten. Sie bekam Komplimente von Ella Fitzgerald und einen Wutanfall von Janis Joplin, die ihren eigenen Auftritt in Frankfurt am Main fast abbrach, weil eine Vorsängerin wie Joy Fleming sie um den Auftritt zu bringen drohte.

Das muss ein entscheidender Moment in der Karriere der Joy Fleming gewesen sein. In Deutschland kann ihr niemand, das wusste sie, das war leicht zu hören. Trotzdem überholten sie, gemessen an den Hitparadeneinträgen, andere. Katja Ebstein. Vicky Leandros. Su Kramer.

Irgendwie also saß die Fleming fest. Die Kolleginnen bedienten jeweils Rollen, sie wusste nicht einmal, dass das wichtig ist in so einem Beruf wie dem ihrigen. Da die eine mit Achtundsechziger-Appeal, die andere mit dem Hauch des Elegischen, die Dritte machte auf afrofrisurenhaftes Hippietum. Joy Fleming sang dafür den „Neckerbrückenblues“. In Mannheimerisch. Sie brauchte sich für diesen Song nicht zu verstellen, da sang sie von einer Welt, in der sie zu Hause war. Vom Mann, der nicht nach Hause kommt, vom Frust der Frau, die das ewige Warten auf den Kerl satt hat, vom Willen, sich die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen.

Das war ein neuer Ton im deutschen Unterhaltungsgeschäft. Kein Schlager im traditionellen Sinne. Keine Heiterkeit in Noten. Ungefällig im Klang, hart in der Intonation, warm an den Stellen, die sie versöhnend interpretieren muss. Nichts an ihr klang pädagogisch-liedermacherinnenhaft, sie hatte nichts Nachdenkliches, das war grob und rau. Die Kritiker begannen sie zu lieben, nicht die von Bravo oder der Hörzu, aber Autoren des Sterns oder der Frankfurter Rundschau.

Freilich kühlte deren Zuneigung ab, als die Fleming diesen Mundartblues als Masche nicht weiterzustricken gedachte. In das sozialliberale Establishment der Siebzigerjahre ließ sie sich obendrein nicht integrieren. Dafür beteuerte sie, gerne Hausfrau zu sein, Ehefrau und Mutter.

Inzwischen war sie auch äußerlich als ganz und gar unvereinbar mit dem deutschen Schlagerideal erkennbar. Eine mit Fleisch auf den Knochen. Während der Proben zum deutschen Vorentscheid zum Grand Prix Eurovision, 1975 in Frankfurt am Main, raunte man dem Unterhaltungschef des Hessischen Rundfunks, Hans-Otto Grünefeldt, zu, so eine, gemeint war: so eine Dicke, könne doch nicht für Deutschland singen. Die Jury jedenfalls setzten sie hinter die gertenschlanke Peggy March, aber das Publikum wählte sie mit Abstand auf den ersten Platz. Nach Stockholm fuhr sie, um mit „Ein Lied kann eine Brücke sein“ zu gewinnen. Grünefeldt setzte durch, so erklärt sie sich heute, dass Joy Fleming in einem Abendkleid auftritt – und nicht in einem Hosenanzug, der sei als Frauentextil, europäisch gesehen, unmöglich.

Joy fügte sich („des wär viel besser, e schicke Hoseanzug, so wie die Gladys“), die deutsche Presse verriss sie nach ihrer Niederlage, aber ihre Konzerte nach dem Grand-Prix-Debakel waren dennoch ausverkauft. Und bei ebendiesen Auftritten machte sie einen entscheidenden Fehler: Sie fing an, Schlagerkollegen zu verspotten. Lästerte über Manuela („Des mach ich aus Pietätsgründen natürlich net mehr“), weil die Aretha Franklins „Spanish Harlem“ in selbst für Schlagerverhältnisse ungewöhnlicher Piepsigkeit eindeutschte – und die Fleming sang sie bis zur grausamen Kenntlichkeit nach, noch heiser-vogelzwitschiger.

Niemand konnte vor ihr bestehen, mit ihrer Stimme verätzte sie jede mögliche Kollegialität. Das Publikum lachte und merkte nicht, dass es sie tröstende Lacher waren. Joy Fleming zog sich zurück. Die Plattenverträge fielen immer minderdotierter aus. Michael Holm, Sänger und Musikproduzent, sagt heute, sie habe sich nicht beraten lassen wollen. Kein Anruf, keine Bitte, mal wieder, nach „Ein Lied kann eine Brücke sein“, etwas zusammen zu machen. Er meint es gut, wenn er sagt: „Die Joy hat immer gemacht, was sie wollte. Oder was sie glaubte zu wollen.“

Ende der Siebzigerjahre bat sie der Jazzpianist Kristian Schultze, seine Variationen auf Popklassiker mit ihrer Stimme zu begleiten. Heraus kam ihre beste Platte. Aus „We’ve Only Just Begun“ oder „I’ll Never Love This Way Again“, Klassiker für Sängerinnen wie Karen Carpenter oder Dionne Warwick, machte sie kleine Jazzperlen. Produktionen wie diese fielen jedoch nicht weiter ins Gewicht. Das Publikum kaufte ihre Platten nicht. Joy Fleming verstand die Welt jetzt erst recht nicht. Singen sei doch das Wichtigste, egal was. Aber eine künstlerische Linie war nicht erkennbar.

Eine wunderbare Produktion folgte einer miserablen, einer Tournee mit Fünf-Mann-Liveband folgte eine mit einem einzelnen Mann, der aus seiner elektronischen Orgel („sponsored by Yamaha“) ein ganzes Orchester herausholte. Hauptsache on the road, „isch konnte mich net um alles kümmern, musste ja Geld verdiene“.

Nur die halbe Wahrheit kann das sein, denn Joy Fleming war öfter, als ihr gut tat, ziemlich eigensinnig. Immer hatte sie einen Manager (ihren früheren Mann), aber eine Geschichte über ihn, der sie nur unprofessionell vermarktet, ist nicht zu erzählen. Denn Joy Fleming hat keinen Sinn für Images. An ihr gibt es nichts zu basteln, „sie ist eins zu eins“, sagt Promoter Johannes Kram, was auch mit „Sie lässt sich nichts sagen“ übersetzt werden kann.

Frauen auf der Bühne – das war früher selbst im Rock schwer. Ihre Zeit scheint aber jetzt erst zu kommen, und das ist nur gerecht. Kanzler Schröder, erzählt sie, zwanzig Minuten bis zum Auftritt, habe, als man ihn fragte, wen man denn für ihn einladen solle, ihren Namen genannt. Möglich, dass man ihr erst jetzt nicht mehr übel nimmt, keine gymnasial inspirierte Jazzerin geworden zu sein. Ein schlechtes Gewissen wie einer alten Tante gegenüber, die man bei Familienfesten immer etwas geschnitten hat, weil sie so dummes Zeug an der Kaffeetafel erzählt.

Kürzlich sah man Joy Fleming beim Marlene-Gedächtnis-Abend im Berliner Friedrichstadtpalast. Eine Show mit Stars und Sternchen, die auf Ute Lemper zugeschnitten war. Für das erste Lied erhielt die Fleming Applaus, beim zweiten Song schon Standing Ovations. „Ich singe ebe, bis ich nicht mehr kann. Ich will auf der Bühne umfalle. Lieber wie in der Küch beim Kartoffelschälen.“

Noch fünfzehn Minuten, ehe die Taxe sie zum Schmidt’s Tivoli fährt. Sie wird sich und ihren Chor vorstellen, allen Kellys zum Trotz. Und in Kiel wird sie einen schwarzen Hosenanzug tragen. Ein paar Kilo will sie noch abspecken. Keiner soll sagen, sie habe aus Stockholm nicht gelernt. Ihr Song: „Joy To The World“.

JAN FEDDERSEN, 44, taz.mag-Redakteur, kaufte seine erste Joy-Fleming-Platte 1974.

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