Labyrinthe aus Holz: Irgendwo, tief drinnen, eine Vagina

In der Kunsthalle Osnabrück tun sich Schluchten auf. Die Künstler David Rauer und Joshua Sassmannshausen wollen, dass sich BesucherInnen neu orientieren

Drinnen oder draußen? BesucherInnen laufen durch ein Labyrinth aus Schluchten und Gängen. Foto: Angela von Brill

OSNABRÜCK taz | Es geht bergauf. Im spitzen Winkel um die Ecke. Irgendwo, mitten in diesen verschachtelten Gängen, endet ein Weg vor einer Wand. Und plötzlich taucht da eine überdimensionale Vagina auf, Ein- und Ausgang in eine riesige Gebärmutter.

Mit „Forma Forma“ haben David Rauer und Joshua Sassmannshausen eine begehbare Installation erschaffen, durch die die AusstellungsbesucherInnen sich erst ihren Weg suchen müssen. Das Labyrinth führt durch und vor die Kunsthalle Osnabrück. Doch was sich außerhalb der aus Tischlerplatten gebauten Schluchten befindet, ist nur hin und wieder durch schmale Schlitze zu sehen. Es gilt also, sich neu zu orientieren. Wo bin ich? Drinnen? Oder draußen? Gibt es überhaupt ein Draußen?

Das sind existentielle Fragen, die sich beim Weg durch dieses Gangsystem stellen. „Forma Forma“ ist als Angebot zur Selbsterfahrung zu verstehen, etwa stellvertretend für den eigenen Lebensweg mit seinen Höhen und Tiefen, Umwegen und Sackgassen. Rauer und Sassmannshausen legen sich auf keine Bedeutung fest. Hier gibt es kein Muss, nur ein Kann.

Recycling als Kontrast

Bezüge zur Kunstgeschichte und zur unmittelbaren Umgebung der Kunsthalle gibt es dagegen so einige. Die Vagina ist, na klar, eine Anspielung auf Niki de Saint Phalle und ihre 1966 entstandene Nana im Moderna Museet in Stockholm, ein 29 Meter langer Frauenkörper, der durch die Vagina betreten wird und in dessen Brust es eine Milchbar gibt. Bei „Forma Forma“ geht es nur in eine Art Gebärmutter, in einen in weiches Licht getauchten Raum, in dem Töne von außen nur gedämmt ankommen.

Die Ur-Referenz aber ist Kurt Schwitters Merzbau, ein Raum im Raum, mit dem der Dada-Künstler vermutlich 1923 in seiner Hannoveraner Wohnung begann. Die riesige Installation wuchs immer weiter, über das Atelier in andere Zimmer und in ein oberes Stockwerk hinein. Auch nachdem er ins Exil geflüchtet war, baute Schwitters an verschiedenen Wohnorten an der Installation weiter. Ganz erhalten ist keiner der Bauten. Dafür gibt es im Sprengelmuseum in Hannover einen Nachbau.

Gebaut ist „Forma Forma“ aus Recyclingmaterialien, aus Tischlerplatten vor allem. Das bildet einen schönen Kontrast zum Kirchenschiff der Kunsthalle, die in einem ehemaligen Dominikanerkloster aus dem 13. Jahrhundert untergebracht ist. Hier die alten, für die Ewigkeit gedachten Steine mit den bunten Glasfenstern, dort das scheinbar als Provisorium zusammengezimmerte Holzgebilde, das irgendwann der nächsten Ausstellung weichen wird.

Die hölzernenKorridore lassen Raum für Interpretationen. Sehen sie eher wie Büroräume oder Passagen aus?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das inzwischen entwidmete Kloster vorübergehend Not­unterkunft für Flüchtlinge. Um mehr Platz zu schaffen, waren Zwischendecken eingezogen worden – es entstanden Räume im Raum.

„Schule der Empathie“

„Forma Forma“ passt in die Ausstellungsphilosophie von Julia Draganović. Mit dem passiven Betrachten von Kunstwerken ist es vorbei, seit sie vor zwei Jahren die Direktion der Kunsthalle Osnabrück übernommen hat. Mehr oder weniger jedenfalls. Denn Draganović setzt auf Installationen und Performances. Zum Auftakt etwa holte sie Künstler Michael Beutler und Architekt Etienne Descloux, die unter anderem eine lange Bank im Kirchenschiff installierten. Das führte zu einer Umkehr der üblichen Ausstellungssituation: Nicht die Kunstwerke werden betrachtet, sondern der Raum selbst.

„Forma Forma“ fügt sich in dieses Konzept nahtlos ein. „Schule der Empathie“ ist das Jahresprogramm der Kunsthalle betitelt, bei dem es um die Partizipation geht. Die BesucherInnen sollen ihre Lebenswelt von anderen Standpunkten aus betrachten. Bewusst knüpft die Kunsthalle damit auch an das Thema Migration an.

Die Kolumbianerin Maria Jose Arjona etwa griff es am Jahresanfang mit Performances und Installationen auf, die von der Flugroute von Zugvögeln zwischen Nord- und Lateinamerika inspiriert waren. Der in Havanna geborene Ernesto Pujol, ein ehemaliger Mönch, lud vor einigen Wochen zu einer 41-stündigen Geh-Meditation in die Kunsthalle.

Ums Laufen geht es auch in der Riesen-Installation „Forma Forma“. Und damit auch um Flucht und Migration. Denn der 130 Meter lange Weg führt ins Ungewisse. Darüber hinaus zitieren Rauer und Sassmannshausen auch das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück, dem weltweit ersten Bau von Daniel Libeskind. Der Stararchitekt symbolisiert mit dem „Museum ohne Ausgang“, wie es auch genannt wird, das Leben von Nussbaum, der vor den Nazis ins Exil fliehen musste und schließlich in Auschwitz ermordet wurde.

Beim Laufen alle Sinne aktivieren

Assoziationen lassen sich aber auf vielen Ebenen schaffen. Die hölzernen Korridore können genauso an Büroräume wie auch an Passagen erinnern. Und es geht nicht nur ums Laufen, sondern auch darum, alle Sinne zu aktivieren. An einer Stelle etwa sind die BesucherInnen aufgefordert, ihre Arme tief in Plastikschläuche in der Wand zu stecken.

Und wer dann den Weg durch die Installation zurückgelegt hat, ist immer noch drinnen, nämlich im Kirchenschiff der Kunsthalle. Oder doch nicht? Schließlich ist die Installation selbst nun von außen zu sehen. Für den Perspektivenwechsel können es sich die BesucherInnen auf Dämmmaterial bequem machen. Ein bisschen Ausruhen ist nicht schlecht. Denn schließlich geht es danach den ganzen Weg wieder zurück.

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