LESERINNENBRIEFE :
Normale Regelverletzungen
■ betr.: „Nur Nein sagen dürfen sie“, taz vom 27. 2. 10
Ich möchte die grünen Abgeordneten in Berlin daran erinnern, dass die bewusste Regelverletzung früher ganz normal im Hohen Hause war. Zwei Beispiele dazu: Als der südafrikanische Außenminister Botha 1984 in Bonn war, hielt ich in meiner Protestrede das Plakat mit Nelson Mandela hinter Gitterstäben hoch und forderte Bundeskanzler Helmut Kohl auf, mit diesem Mann zu reden. Das Plakat wurde mir nicht weggenommen. Als ich zum Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg über die ungerechte Weltwirtschaftsordnung reden durfte, verlas ich am Ende meiner Rede die Namen von drei ANC-Freiheitskämpfern, die am Tag zuvor in Südafrika hingerichtet worden waren, und bat um eine Gedenkminute. Außer den Grünen gesellten sich noch ein paar SPD-Abgeordnete dazu, die im Bundestag aufstanden. Die verblüffte Bundestagspräsidentin Annemarie Renger ließ alle gewähren, obwohl das Murmeln bei der CDU immer stärker wurde. Bei vielen Abrüstungsdebatten waren Petra Kelly und andere mit dabei, Transparente und Plakate hochzuhalten. Die CDU lernte von uns: Bei einer Afghanistandebatte 1985 hielt Jürgen Todenhöfer am Rednerpult bunte Schmetterlingsminen aus Plastik hoch, um darzustellen, wie Kinder durch diese schönen Attrappen in den Tod gerissen wurden. Es war mucksmäuschenstill, und kein Saaldiener intervenierte.
Christian Ströbele hat vollkommen recht, wenn er sagt: „Die Grünen können dies auch ruhig wieder einmal tun.“
WALTER SCHWENNINGER, Ex-MdB Grüne, Tübingen
Wohnen im Rhein-Main-Gebiet
■ betr.: „Wie ein Hasenstall“, taz vom 27. 2. 10
Unter dem Titel „Wie ein Hasenstall“ wetterte Frank Härder über die unannehmbare Ästhetik des von Ikea demnächst auch in Deutschland angebotenen Fertighauses „Boklok“. Dies gipfelte in seiner Aussage „Leute sollen nicht in Häusern wohnen, wo andere Leute vorbeigehen und sagen: Wie wohnen denn die!“
Härder kennt vermutlich die Lebenswelt der heutigen Unterschicht (also derer unter seiner Gehaltsklasse) ebenso wenig wie Westerwelle. Denn ansonsten wäre ihm sicher die Wohnungsnot von Familien mit Kindern im Rhein-Main Gebiet aufgefallen. Da leben Familien in Kellerwohnungen, auch vornehm Souterrain genannt, oder in Löchern, die mit Einfachverglasung ausgestattet sind. Auf der Wohnungssuche hier durfte ich einige dieser Löcher besichtigen, für die dann auch noch exorbitante Mieten verlangt wurden. Und dann kommt Ikea und versaut die Preise! Für 180.000 Euro ist so ein Hasenstall ein Schnäppchen und Konkurrenz zu einer Mietwohnung, die es so nur in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens gibt. Ein vergleichbar großes Haus in KfW70-Ausführung kostet hier in Darmstadt locker 320.000 Euro. MARTIN LUCAS, Darmstadt
Verunsicherte Jungen
■ betr.: „So groß ist der Vaterhunger, herzzerreißend“,taz vom 19. 2. 10
Als Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenen-Analytikerin kann ich die Aussagen von Matthias Franz bestätigen: Die Jungen und jungen Männer haben es tatsächlich zunehmend schwer, mit dem sich wandelnden Bild „passender“ Männlichkeit klarzukommen. Denn die Zeiten klarerer Orientierung sind vorbei. Was nicht heißen soll, dass die früher vielleicht klarere „Zuschreibung“, was als männlich und was als weiblich zu gelten hat, ideal gewesen wäre, denn dies wiederum engte den Entwicklungsspielraum bei beiden Geschlechtern zuweilen ein. Ganz allgemein kann ich seit einigen Jahren in meiner therapeutischen Arbeit (aber auch aus „privatem“ Erleben) bemerken: Die Mädchen werden „frecher“ und selbstbewusster (und das ist „gut so“!), die Jungen sind tendenziell verunsichert. Sie sollen selbstbewusst, sozial kompetent, empathisch, leistungsfähig, leistungswillig, wild, zärtlich und noch vieles mehr sein („Multitasking“). Mit diesen Widersprüchen sind viele überfordert. Dies schlägt sich auch in der Zunahme der mit dem sogenannten ADHS diagnostizierten Kinder vorwiegend männlichen Geschlechts nieder, die dann mit Ritalin gezwungen werden, „Ruhe zu bewahren“ in einer Welt der Rollenkonfusion und Überstimulierung!
URSULA WIENBERG, Markt Schwaben
Diese Drohung ist irrelevant
■ betr.: „So groß ist der Vaterhunger, herzzerreißend“ taz vom 19. 2. 10
Professor Mathias Franz von der Uni Köln erklärt, warum Männer früher sterben (zu allen früheren Zeiten waren es immer die Frauen, ein kleiner Ausgleich jetzt!) – und sich in Zukunft von den Frauen „abwenden werden“!
Ich habe sehr gelacht: Sie, die Männer, haben sich in der ganzen langen Menschheitsgeschichte den Frauen doch noch nie zugewendet! Diese Drohung ist also irrelevant!
Sie haben ausschließlich auf sie herabgeschaut, in allen möglichen Formen des „Herabschauens“ – manchmal, siehe Mädchenverstümmelung, noch heute, sogar lebensbedrohend. Nun ja, sie waren und sind – im Wettlauf mit den jungen Frauen heute allerdings – körperlich nun mal größer! Und nun sollen sie auf Augenhöhe! Arme Jungs, müssen sie doch erst mal lernen! Und wo bleibt dann ihr „Gottähnlichkeitswahn“?
In 200 Jahren komme ich noch mal auf die Welt, wird ja richtig spannend, und seh mal, was draus geworden ist – toi, toi, toi für den Kampf! GISELA KREINER, Müddersheim