piwik no script img

LEBEN Immer schon klagten die Menschen über ihr beschleunigtes Leben. Wie ist das heute?Das große Rennen gegen den Zeitverlust

von Shirin Sojitrawalla

In Corinna Belz’ wundersamem Dokumentarfilm über Peter Handke plädiert der Schriftsteller immer mit der Ruhe für ein 11. Gebot: „Du sollst Zeit haben!“ Wer das hört, nimmt sich genau das unbedingt vor, um es dann in der Hektik des Alltags flugs wieder zu vergessen.

Das Thema Zeit ist ein Dauerbrenner auf dem Buchmarkt, die Titel scheinen sich zu häufen: Rüdiger Safranski etwa beschäftigte sich jüngst sachgemäß mit ihr („Zeit, was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“), während Christoph Ransmayr ihr literarisch nachspürte („Cox oder der Lauf der Zeit“).

Die beiden Journalisten Corinna Budras und Pascal Fischer nähern sich der Sache vergleichsweise nüchtern. In 12 Kapiteln bündeln sie Wesentliches zum Thema, wobei der nicht vor Originalität strotzende Titel des Buches durchaus auf den Inhalt übertragbar ist. Zugute halten muss man den beiden Autoren, dass sie das Bekannte unterhaltsam, anregend und allgemeinverständlich auf den Punkt bringen. Vorwerfen darf man ihnen, dass sie nicht selten im Ratgebermilieu stranden und meinen, auch ausgesprochene Banalitäten aussprechen zu müssen. Dabei haben sie sich zu jedem Thema Menschen gesucht, deren Leben den Lauf der Zeit illustriert.

Roger Willemsen sprach in seiner letzten Rede davon, dass unsere Existenzform die Rasanz sei

So besuchen sie etwa im zweiten Kapitel, das sich unserer Arbeitswelt widmet, Norbert Faltin, der seinen Dienst im „Amazon-Fullfillmentcenter“ in Koblenz fristet. Der arme Mann scannt mit seinem kleinen Gerät nicht nur Waren, sondern über die ihm um den Hals baumelnde Firmenkarte auch sich selbst. So weiß Amazon immer, welches Paket er gerade scannt, und vor allem auch, wann er gerade nichts scannt, also nichts tut. In diesem Falle fängt das Ding zu piepsen an, denn Beschleunigung ist dort aller Tugend Anfang. Das ist beileibe nicht nur bei Amazon so.

Der „Hang zur Effizienzsteigerung“ hat längst fast die ganze Welt erfasst. Und diejenigen, die von ihren Arbeitgebern nicht total überwacht werden, hetzen sich gern selbst in Grund und Boden, indem sie versuchen, noch schneller, effizienter, optimaler, besser zu arbeiten. Da ist es schon interessant, zu erfahren, dass wir heute entgegen einer weit verbreiteten Empfindung nicht etwa mehr, sondern weniger als früher arbeiten.

In den Vereinigten Staaten hätten die Menschen 1890 noch 100 Stunden in der Woche arbeiten müssen, was dann erst langsam reduziert wurde, damit sie mehr Zeit zum Einkaufen hatten, lassen die beiden Autoren wissen. Und in Deutschland sei bis in die 1960er Jahre hinein auch der Samstag ein ganz normaler Arbeitstag gewesen. Daran liegt es also nicht, aber woran dann?

Die Autoren zitieren den Soziologen Hartmut Rosa, der von einer „Beschleunigungsdiktatur“ spricht und auf seine Frage, was einem guten Leben denn im Wege stehe, die immer gleiche Antwort erhält: „Zeitmangel und Beschleunigung“. Roger Willemsen sprach in seiner letzten Rede davon, dass unsere Existenzform die Rasanz sei. Neu sind diese Befunde nicht, doch sie lohnen die weitere Auseinandersetzung, weil sie darüber bestimmen, wie wir leben und leben wollen. Dass man sich dem Ganzen und auch der Zeit nicht ohnmächtig ausliefern muss, darauf legen die beiden Autoren dankenswerterweise wert.

Die meisten von uns können sich entscheiden, ob sie ihren Kaffee oder ihre Mahlzeiten wirklich im Vorbeigehen einnehmen, den Kinoabend mit Freunden auf dieselbe To-do-Liste packen wie berufliche Termine und möglichst viele Dinge auf einmal erledigen wollen. Sich darüber wieder einmal Gewissheit zu verschaffen, darin liegt womöglich das größte Verdienst des schmalen Buches. Nehmen wir uns also ein Beispiel an Peter Handke, der etwaigen Besuchern einfach einen Zettel hinterlässt: „Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte.“

C. Budras, P. Fischer: „Wer hat an der Uhr gedreht?“. C. H. Beck 2017, 198 S., 14,95 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen