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LEBEN IST AUSTAUSCH

■ Die Indianer von Leonhard Lentz und Rolf Schübel

LEBEN IST AUSTAUSCH

„Die Indianer“ von Leonhard Lentz und Rolf Schübel

Atmen und kommunizieren: beides sind lebensnotwendige Funktionen, die für Leonhard Lentz ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Erkrankt an einem Kehlkopfkarzinom, wird ihm in einer Operation der Kehlkopf entfernt. Er verliert seine natürliche Stimme, er, der das Erzählen so liebte und der sich so dringend über seine Ängste und Momente der Freude mitzuteilen wünscht. Er lernt die mühevolle „Oesophagus-Sprache“ mittels der Speiseröhrenstimme. Eines Tages steht er zum erstenmal wieder in der Bäckerei: Er verlangt ein Brot und bekommt ein Brot. Es liegt vor ihm auf der Theke wie ein Opfergabe von unschätzbarem Wert. Lentz feiert seinen Wiedereintritt in die Gemeinschaft der Menschen und der Kommunikation.

Rolf Schübels Rekonstruktion eines Lebens mit der Krankheit Krebs basiert auf der autobiographischen Erzählung „Der Indianer“ von Lentz. Peter Striebecks Stimme erzählt die Geschichte im Off. Ihre konzentrierte und einfache Sprache hält eine große Spannung zwischen Identifikation und Distanzierung aus. Schübels Bilder lassen keinen Moment den Charakter der rekonstruierten Erinnerung vergessen; nie verfestigt sich das angedeutete Spiel zur Illusion. Wie der Blick des Kranken sich verengt und auf das Hier und Jetzt focussiert und wie er in Momenten der Not eine innere Reise antritt, bestimmt die Perspektive des Films. Das Leben von Lentz, der noch vor der Fertigstellung des Films starb, wurde nicht zur Filmrolle - Schübel erweist seiner Identität ungewöhnlichen Respekt, indem er ihn nicht durch einen Darsteller ersetzt. Wir sehen Lentz nur am Anfang und am Ende des Films bei einem Fest. In der Rekonstruktion der Geschichte aber fehlt er in den Bildern, sein Verlust bleibt präsent, und wir sehen durch die Lücke, die er hinterlassen hat. Schübel erreicht Authenzität durch den Verzicht auf das geschlossene Bild. An Lentzens Stelle tritt die Kamera; damit wird auch der voyeuristische Blick auf das Leiden ausgespart. Durch die subjektive Perspektive erfährt man sehr nahe das Ausgeliefert-sein an die medizinischen Apparate, die stumme Einsamkeit der Wartezimmer, die Bedrohlichkeit der Bestrahlungsräume, die Ungewißheit, die durch die knappen Informationen auch der freundlichen Ärzte entsteht. In Lentzens Freunden und Verwandten ist die eigene Unfähigkeit wiederzuerkennen, Kranken und Sterbenden zu helfen - was hat man außer Mitleid schon anzubieten? Die Mitmenschen schrecken vor ihrer eigenen Hilflosigkeit zurück, den Tod des anderen nicht aufhalten zu können und überlassen ihn damit ein Stück weiter seiner Einsamkeit. Es ist Lentz selbst, der diese Stigmatisierung überwindet, der auf seiner Freude und seinem Recht, noch im Garten zu sitzen und Wein zu trinken, beharrt.Katrin Bettina Müller

„Der Indianer“, Filmbühne am Steinplatz, 2.-15. Juni täglich 21 Uhr, 16.-22. Juni täglich 19 Uhr.

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