piwik no script img

■ LANGSAMER KAUENBerliner Wochenpost als Sommerhilfswerk für den deutschen Osten

Im Restaurant ist die Speisekarte seit zwanzig Jahren unverändert, die Reste von heute werden morgen als Beilagen serviert. Und auch die Gesichter bleiben: die Wirtin, Mann und Schwager, die Töchter. Hier wird nicht expandiert. Die Zeit steht still, die Häuser werden bewohnt, bis der Wind sie zum Einsturz bringt.“ Nicht von der DDR ist diesmal die Rede, sondern von einem „stillen Winkel“ mitten in Frankreich. Matthias Greffrath, importierter West-Chef der Ostberliner Wochenpost, berichtet in der jüngsten Donnerstagspredigt von seinen Urlaubserlebnissen in der französischen Provinz, von der Sinnlichkeit des einfachen Lebens auf dem Lande, wo „genug noch genug ist“ und die Flüsse „langsamer fließen als anderswo“, und vom Wahnsinn unserer Habenhaben- und Wegwerfgesellschaft. Unter dem übermächtigen soziokulturellen Einfluß von Gauloises, Baguette und Ratatouille — Fronkraisch, Fronkraisch, oh la la — beschloß Greffrath schon nach wenigen Tagen, daran zu glauben, daß „der moderne Konsument nicht das letzte Wort der Weltgeschichte“ ist. Schon Karl Marx sagte ja, „kein Fortschritt ohne Freizeit, und das denken wir noch einmal im milden Licht der Sterne. Und dann sitzen wir im Rückstau. Zu Millionen. Schwören, mit dem Rad zu fahren, weniger zu arbeiten, und hoffen, daß man uns zur Vernunft zwingt: die LKWs von der Straße jagt, die Tomaten in Holland, den Schiefer in Cararra, die Kekse in London läßt.“

Aber ach, die Aufgabe ist natürlich viel zu groß für die dummendummen Politiker; das kluge Volk selber soll entscheiden: „das Wachstum zu bremsen, die Wünsche zu ändern“. Keine Kekse aus London. Dafür Butterplätzchen aus Neubrandenburg. Aber was dann?

„Entweder wir stellen uns, jeder und alle, neue weltumspannende Ziele, oder es wird zu neuen Diktaturen kommen.“ Punktum. Schlußaus. Sense. Entweder Rettung oder Untergang. Schließlich ein letzter verstörender Gedanke: „Einmal im Jahr fühlen wir langsamer, als die Welt sich bewegt. Und das ist schon merkwürdig: daß das Schicksal der Erde davon abhängen sollte, ob wir unsere Urlaubsgefühle ernst nehmen.“

Den Urlaub erst noch vor sich hat offenbar Wirtschaftsredakteur Detlef Gürtler, der noch Mitte August völlig hilf- und orientierungslos im kapitalistischen Produktivitätswahn befangen war. Ungeheuerlich, eine Beleidigung ostdeutschen Aufbauwillens, fand er des Grafen Lambsdorff von sämtlichen Wirtschaftsforschungsinstituten bestätigten Hinweis auf die nach wie vor um ein Drittel geringere Produktivität in Deutschland Ost gegenüber Deutschland West. Ein perfider statistischer Taschenspielertrick sei dies, der wieder einmal unterstelle, die Ossis seien immer noch „dumm, faul und zu nichts zu gebrauchen“. In prächtiger Schwabenmanier („Schaffe, schaffe, Häusle baue“) zählt der Wochenpost-Redakteur die allerneuesten kapitalistischen Errungenschaften zur Produktivitätssteigerung im Osten auf, um am Ende die Schuld souverän und ganz wie früher dem westlichen Kapital zuzuweisen (zu dem auch die USA, Japan, Kanada und Australien sowie die Schweiz, Österreich und die Benelux- Staaten gehören): Es investiert einfach nicht. Oder nicht genug. Jedenfalls überhaupt nicht genug. Und so bleibt die Braunkohle in Leipzig, die Thüringer Wurst in Thüringen und die Rostocker Sprotte am verseuchten Meeresgrund. Um den statistischen Mittelwert der Produktivität — und nur um diesen geht es beim Durchschnittsvergleich — nachhaltig zu heben, geriete jedoch Wirtschaftsexperte Gürtler und das weltweit operierende Kapital in einen akuten Konflikt mit dem Experten für Weltrettung, Butterkeks & Sommerfrische, Mathias Greffrath („Man kaut langsamer, wenn man selber kocht“), der da sagt: Genug ist doch genug, mehr als genug. Expansion ist nur von Übel. Kein Schiefer aus Carrara. Der Apfel bleibt im Havelland. Nieder mit dem Weltmarkt! Es lebe die Materialpause!

Unübersehbar tobt der Kampf zweier Seelen, ach, in einer Wochenpost, und so muß ein Dritter schlichten: Hanno Heidrich, journalistischer (Radio-)Profi, frisch aus Frankfurt — am Main — eingeflogen, berichtet in einem köstlichen Kastenglösschen von Flug und Elend am frühen Montagmorgen: LH 2406 Frankfurt — Berlin. Sie greifen sich BILD und FAZ, sie tragen Lederkoffer mit Zahlenschloß und goldene Uhren, sie lästern über Ossis und rempeln unschuldige Frauen mit Plastiktaschen an: „Schnelle Blicke in der U-Bahn. Alle wissen: Die Vollstrecker sind wieder da. Die parfümierten.“ Sie, die grundbösen Treuhandmanager, Makler und Rechtsanwälte, die Kriegsgewinnler und Spekulanten, die Kolonialoffiziere der neuen Weltmacht Deutschland, die — „Genug ist nicht genug“ (Konstantin Wecker) — die Landnahme generalstabsmäßig organisieren und am Ende noch mit statistischen Taschenspielertricks den von ihnen rücksichtslos forcierten Produktivitätszuwachs herunterrechnen, sie sind die Nemesis des wehrlosen Ostens. Die fallen wie die Heuschrecken ein und lassen nichts mehr übrig vom Gedanken an wahre Humanität und eine Welt ohne Hollandtomaten.

Derart wiedervereint im trauten Feindbild geht der Blick hoch zur Milchstraße, wo statt schwerer Rolex- Uhren tausend kleine Sternlein blinken. Und wenn die Harmonie so erst vollkommen ist, dann triumphieren Verlogenheit und Heuchelei bis zum nächsten Urlaub wie Gott in Frankreich, wo die Häuser stehen, bis der Wind sie fällt.

BERLINERWOCHENPOSTALSSOMMERHILFSWERKFÜRDENDEUTSCHENOSTEN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen