Kurz vor dem Brexit-Referendum: „Tag des jüngsten Gerichts“
Die EU-Befürworter liegen laut einer Umfrage bei 52 Prozent, das Brexit-Lager kommt auf 48 Prozent. Das Pfund stieg auf ein Jahreshoch gegenüber dem Dollar.
Durch die Brexit-Nacht führt am Donnerstag ab 23 Uhr unser musikalischer Liveticker unter taz.de/brexit.
Der historische Charakter der Abstimmung war allen Beteiligten klar: „Tag der Unabhängigkeit“, titelte die europakritische Boulevardzeitung The Sun, während die proeuropäische Zeitung The Times vom „Tag des jüngsten Gerichts“ sprach. Ebenso gespalten wie die Zeitungen zeigte sich auch die Bevölkerung: Laut einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage lagen die EU-Befürworter mit 52 Prozent nur wenige Prozentpunkte vor dem Brexit-Lager, das auf 48 Prozent kam.
Die Wahllokale öffneten landesweit um 07.00 Uhr Ortszeit (08.00 Uhr MESZ). Bis 22.00 Uhr (23.00 Uhr MESZ) konnten Wähler ihre Stimme abgeben. Wegen des erwarteten großen Andrangs wurden außer in Schulen und Pubs auch in Kirchen, Garagen, einem Waschsalon und in einer Windmühle Wahlkabinen aufgestellt. Mit belastbaren Ergebnissen wurde nicht vor 05.00 Uhr am Freitagmorgen gerechnet.
Gegner und Befürworter des Austritts hatten bis zuletzt eindringlich um Stimmen geworben. Der Wortführer der Austrittsbefürworter, Londons früherer Bürgermeister Boris Johnson, sah am Mittwochabend einen Sieg in Reichweite. Premierminister David Cameron, der die Abstimmung im Januar 2013 unter dem Druck seiner konservativen Partei angesetzt hatte, appellierte nach der Stimmabgabe am Donnerstag im Internetdienst Twitter hingegen dafür, für den Verbleib zu stimmen, um eine „bessere Zukunft“ zu sichern.
Warteschlangen vor den Wahllokalen
Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn antwortete auf die Frage nach dem Ausgang des Referendums: „Sie können immer die Wettbüros fragen.“ Diese erwarteten einen Sieg des „Remain“-Lagers. Der Vorsitzende der europafeindlichen Ukip-Partei, Nigel Farage, sagte dagegen bei seiner Stimmabgabe in London, das Austritts-Lager habe gute Chancen auf einen Sieg.
Am Tag des Referendums veröffentlichte viele Briten ein Foto ihres ausgefüllten Stimmzettels mit dem Hashtag #ivoted (ich habe gewählt) auf Twitter. In Cumbria im Nordwesten Englands bildete sich vor einem Wahllokal schon vor der Öffnung eine Warteschlange, wie Wähler Nick Turner auf Twitter berichtete. „So etwas habe ich an einem Wahltag noch nie gesehen“, schrieb er.
Die europäischen Partner Großbritanniens hatten am Mittwoch noch einmal klar gemacht, dass ein Austritt unumkehrbar wäre. „Out is out“ – beim No sei keine Rückkehr möglich, sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Frankreichs Präsident François Hollande sagte, ein Austritt wäre „irreversibel“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekräftigte am Donnerstag ihren Wunsch, dass Großbritannien Teil der EU bleibt.
In der hart und emotional ausgefochtenen Kampagne hatten die Brexit-Befürworter das Thema Einwanderung in den Mittelpunkt gerückt und argumentiert, bei einem EU-Austritt könne sich Großbritannien besser gegen Immigranten aus den ärmeren EU-Staaten abschotten. Sie kritisierten eine Gängelung des Königreichs durch Brüssel und appellierten an den Nationalstolz der Briten.
Pfund auf Jahreshoch
Die Pro-EU-Kräfte warnten vor einem internationalen Bedeutungsverlust des Landes und vor unabsehbaren wirtschaftlichen Folgen, wenn Großbritannien den Zugang zum europäischen Binnenmarkt verlöre.
Das Pfund stieg am Donnerstag auf ein Jahreshoch gegenüber dem Dollar: In Tokio entsprach ein Pfund wenige Stunden vor Öffnung der britischen Wahllokale kurzzeitig 1,4844 Dollar. So stark war die Währung das ganze Jahr über noch nicht. Auch gegenüber dem Euro legte das Pfund zu.
In Erwartung der Ergebnisse verstärkten Finanzinstitutionen ihre Teams, an den Börsen herrschte erhöhte Wachsamkeit. Nach Ansicht von Analysten setzen die Händler mehrheitlich darauf, dass die Briten für einen Verbleib ihres Landes in der EU stimmen
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