Kuratorin über tanzenden Autor Grass: „Ein Lebensgefühl des Loslassens“
Günter Grass liebte den Tanz und bewunderte ihn als Kunstform. Daran erinnert eine Ausstellung im Lübecker Grass-Haus.
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taz: Frau Wittmer, lernen wir Günter Grass in Ihrer Ausstellung neu kennen? Dass er getanzt hat, entspricht so gar nicht dem grimmigen Bild, das man von ihm hat.
Julia Wittmer: Oh, definitiv. Das ist eine Seite von ihm, die kaum beleuchtet ist. Dabei war Grass ist ein sehr leidenschaftlicher, dynamischer Tänzer. Es gibt ein Video, wie er auf der Frankfurter Buchmesse mit einer Sängerin tanzt, die seine Lesung begleitet hat. Und 1999 druckten alle schwedischen Zeitungen auf den Titelseiten kein langweiliges Foto von der Verleihung, sondern ein Bild von ihm und seiner Frau Ute, wie sie nach der Preisverleihung tanzen.
Wie verändert der Tanz Grass als Figur?
Für mich war er schon immer sehr facettenreich. Aber viele andere Künstler hat das schon beeindruckt. Salman Rushdie beschreibt zum Beispiel, Grass an seinem eigenen 75. Geburtstag tanzen zu sehen sei sehr eindrücklich für ihn gewesen.Was tanzte Grass gern?
Alle möglichen Paartänze, von Foxtrott, Schieber, Walzer bis Tango.
Ausstellung „Grass Tanzbar“, ab 28. 3., Grass-Haus, tägl., außer montags, 10-17 Uhr. Eröffnungssause 27. 3, 19.30 Uhr, Kulturwerft Gollan
Und was bedeutete er ihm?
In seinem autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ beschreibt er, wie er als 13-Jähriger von den Frauen das Paartanzen gelernt hat, als alle Männer als Soldaten im Krieg waren. Die frühe Nachkriegszeit hat Grass dann als tanzwütige Zeit beschrieben. Man habe die Befreiung und das Überleben gefeiert. Tanz ist für ihn dort ein Lebensgefühl des Loslassens. Durch die Kunstform Tanz entwickelte er im Verlauf seines Lebens auch so eine Art Kunstverständnis. Einer seiner ersten Essays hieß „Die Ballerina“. Darin beschreibt er das klassische Ballett als eine der perfektesten und damit formvollendetsten aller Künste. Er vergleicht die Ballerina mit einer Art Tanzmaschine.
In einem Interview von 2003 erzählt Grass, um Mitternacht mit seiner Frau Ute in der Küche zu tanzen sei „augenblickliches Glück“. War Ute, seine letzte Ehefrau, Grass' liebste Tanzpartnerin?
Ich denke, dass er besonders gerne mit ihr getanzt hat. Allerdings ist auch seine erste Ehefrau Anna eine wichtige Figur. Sie war Balletttänzerin, und er ging gemeinsam mit ihr nach Paris, weil sie sich dort ausbilden ließ. Grass hat in Paris wiederum „Die Blechtrommel“ geschrieben. Auch darin spielt der Tanz eine wichtige Rolle. In der Ausstellung machen wir auf die berühmte Tribünenszene aus dem Werk aufmerksam. In dieser versteckt sich Oskar unter dem Rednerpult während einer Versammlung der Nationalsozialisten. Von dort aus bringt er die Musiker mit seiner Trommel aus dem Takt und damit die versammelte Menge zum Tanzen. Ein Thema, das nach wie vor aktuell ist, denn auch wir möchten die Nazis natürlich weiter aus dem Takt bringen.
Zur Eröffnung am heutigen Mittwoch legt der 63-jährige Loveparade-Gründer und DJ Dr. Motte auf. Wie passt seine Technomusik zu einem leidenschaftlichen Paartänzer wie Grass?
In „Mein Jahrhundert“ schreibt Grass 1999 über die Loveparade, so ist die Idee entstanden. Wir haben das in der Ausstellung auch thematisiert, deshalb passt Dr. Motte dazu gut. Der Gestalter unserer Ausstellung ist mit ihm bekannt, und es stellte sich heraus, dass auch er großer Günter-Grass-Fan ist. Die beiden haben einander aber nie getroffen, und Grass war selbst auch nie auf einer Loveparade.
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