: Kunst und Künstlichkeit
Ein editorisches Ereignis: Charles Baudelaires Sämtliche Werke liegen jetzt komplett auf deutsch vor ■ Von Andreas Nohl
Mit dem letzten Band der „Sämtlichen Werke“ von Charles Baudelaire hat Ende des vorigen Jahres eine ganz besondere editorische und verlegerische Leistung ihren Abschluß gefunden. Es ist zweifellos eine der bedeutendsten Werkausgaben, die einem fremdsprachigen Dichter in Deutschland bisher zuteil wurde. Und es ist zugleich die Krönung des Lebenswerks ihres deutschen Herausgebers und Mitübersetzers Friedhelm Kemp, der seit den 50er Jahren bahnbrechend der französischen Literatur in Deutschland Gehör zu schaffen versucht hat. Der größte Gewinn der Ausgabe ist es aber, daß wir Leser uns ein fundiertes Bild von dem Dichter und Schriftsteller Baudelaire machen können.
Charles Baudelaire wurde 1821, im gleichen Jahr wie Flaubert, in Paris geboren. Mit kaum sechs Jahren verliert er seinen Vater. Dieser vermutlich traumatische Verlust wird verstärkt, als seine Mutter ein Jahr später den Oberstleutnant Aupick heiratet. Es ist nicht weit hergeholt, wenn man annimmt, daß in diesem doppelten Unglück die Wurzeln für Baudelaires seelische Misere zu suchen sind. Tatsächlich wird der junge Baudelaire verhaltensauffällig. Sein Stiefvater macht sich in seiner Biographie immer dann bemerkbar, wenn es um schwere Bestrafungen und um fatale Weichenstellungen für die Zukunft seines „mißratenen“ Sohnes geht. Baudelaire wird sich von dem Einfluß seiner Mutter nie befreien können. Die Schuld- und Schambriefe des 13jährigen unterscheiden sich in Ton und Motiv nur geringfügig von den Briefen des erwachsenen Mannes bis wenige Jahre vor seinem Tod. Immer buhlt er um Liebe, um Zärtlichkeit und Verständnis, schließlich um Geld. Sein Kult des Dandyismus hat möglicherweise hier seine naheliegende Erklärung: die kalte Maske des überlegenen Dandy als Selbstschutz des emotional Verwundeten.
Mit Eintritt in die Volljährigkeit kommt Baudelaire in den Genuß des bedeutenden Anteils an der Erbschaft seines leiblichen Vaters: 100.000 Goldfranken, auf heute hochgerechnet etwa 800.000 Mark. Binnen weniger Monate bringt er ein Drittel davon durch, so daß sein Stiefvater, nun General Aupick, einen Familienrat einberuft, der Baudelaire entmündigen läßt. Nach dem Verlust des Vaters und der „Untreue“ seiner Mutter ist dies die dritte schwere Niederlage, die Baudelaire erleidet, und von der er sich sein Leben lang offenbar nicht mehr erholt. Immerfort lebt Baudelaire über seine Verhältnisse, häuft Schulden an, die er mit keiner literarischen Arbeit je auffangen kann, so daß er häufig seine armseligen Adressen wechseln muß, um den Gläubigern zu entgehen. Der Mangel an Geld und das Betteln darum werden zu bestimmenden Konstanten. Noch gegen Ende seines Lebens flieht er nicht zuletzt vor seinen Schulden ins verhaßte Brüssel. Dort erleidet er 1866 einen körperlichen Zusammenbruch, der zum Verlust der Sprechfähigkeit und zu einer halbseitigen Lähmung führt. Ein Jahr später, am 31. August 1967, stirbt Baudelaire, 46 Jahre alt.
Charles Baudelaire war zeit seines Lebens ein Außenseiter der Pariser Gesellschaft. Ein Kunstsammler ohne Mittel, ein Frauenliebhaber ohne Glück, ein Luxusbegieriger in Armut, ein Dichter, dem man den Prozeß machte. In den intellektuellen Cliquen der Bohème, in den politischen Zirkeln war Baudelaire ebenso nur seltsamer Gast wie in den Salons, wo die Großbourgeoisie sich zum Gespräch mit den Meinungsmachern traf. Nie hat Baudelaire die Autorität erlangt wie der exilierte Victor Hugo, Théophile Gautier, Sainte-Beuve oder Flaubert. Baudelaire war nie en vogue, es sei denn für die nachkommenden Generationen.
Ein Brief an seine Mutter aus dem Jahr 1861 zeigt Baudelaire inmitten der Trümmer seines Lebens: „In meiner Kindheit gab es eine Zeit der leidenschaftlichen Liebe zu Dir. Ich lebte immer in Dir; Du warst allein für mich da. Du warst zugleich Idol und ein Kamerad. Du weißt, welcher gräßlichen Erziehung Dein Gatte mich später unterwerfen wollte; ich bin nun vierzig Jahre alt, und ich kann nicht ohne Schmerzen an die Internatszeit zurückdenken und an die Furcht, die mein Stiefvater mir einflößte. Schließlich bin ich geflüchtet. Mein einziges Trachten galt dem Vergnügen, der Lust; ich lebte in einer ständigen Aufgeregtheit; die Reisen, die schönen Möbel, die Gemälde, die Mädchen usw. Was die Vormundschaft betrifft, so habe ich dazu nur eine Frage, die mich immer verfolgt hat: warum ist es Dir niemals eingefallen, folgende Überlegungen anzustellen: ,Es mag ja sein, daß mein Sohn in seiner Lebensführung sich niemals nach Gebühr betragen wird; aber es wäre doch möglich, daß er in anderer Hinsicht ein bedeutender Mann würde. Werde ich ihn dazu verurteilen, bis in sein Alter kläglich abgestempelt herumzulaufen; mit einem schändlichen Malzeichen, das ihn lähmen wird und allen Grund zur Traurigkeit bietet?‘ Kein Zweifel, wenn es zu dieser Vormundschaft nicht gekommen wäre, hätte ich alles aufgezehrt. Dann hätte ich wohl oder übel an der Arbeit Gefallen finden müssen. Doch die Vormundschaft wurde eingerichtet, alles ist aufgezehrt, und ich bin alt und unglücklich.“
Die acht Bände der deutschen Ausgabe folgen dem Lebens- und Werkverlauf. Zeitgerecht zu den jeweiligen Werken, die zum Abdruck kommen, stellt – mit einer Ausnahme – jeder Band eine Briefauswahl voran. Die Gedichte werden französisch gegeben und von einer Prosaübertragung begleitet, die außer ihrer Eleganz keine Eitelkeit verrät als die, das Original den deutschen Lesern verständlich zu machen. Ebenso verdienstvoll ist die Aufnahme verschiedener Nachdichtungen einzelner Gedichte, so daß dem Leser im Vergleich der Versionen – etwa von George, Rilke und Benjamin – ein Licht nicht nur über die Rezeptionsgeschichte, sondern auch über die grundsätzliche Schwierigkeit des Gedicht-Übersetzens aufgeht. Alle Prosatexte und alle Prosa- Dichtungen sind makellos übertragen. Der erklärende Apparat läßt kaum eine Frage offen, der Anmerkungsteil zu den kunstkritischen Schriften ist schlicht fabelhaft zu nennen. Das gilt auch für die Erläuterungen zu Baudelaires Essay über Richard Wagner. In der Tat haben allein die Anmerkungen dieser Ausgabe eine Informations- und Lesequalität, die man literaturwissenschaftlichen Aufsätzen über Baudelaire ebenfalls wünschte.
Die Ausgabe beginnt mit den kunstkritischen Schriften zu den alljährlichen „Salons“ von 1845 und 1846, durch die der junge Baudelaire erste Bekanntheit erlangt. Er weist sich früh als Kenner und kühner Entdecker der künstlerischen Bestrebungen seiner Zeit aus. Ihn interessiert die Moderne, deren Begriff er wie kein anderer prägt. Die Kunst muß jeweils neu ihre Zeitgenossenschaft als klassisch und heroisch erweisen. Dieser kämpferische Vorgang, da er sich gegen die Eingeschliffenheit eines abgelebten Klassizismus wendet, ist für Baudelaire der Inbegriff der Romantik, der er selbst sich zuordnet. Romantik und Moderne fallen ihm in eins, indem er das ästhetische Empfinden, das sich mit der Wirklichkeit ständig wandelt, gegen die vorherrschende Formgewohnheit setzt. Darin ist die für die Moderne zentrale Kategorie der Avantgarde angelegt. Indem Baudelaire aber der Fortentwicklung der Kunst größte Bedeutung beimißt, wahrt er zugleich Distanz zu den Ausgeburten des industriellen Fortschritts, die er zu den „despotischen Feinden jeder Poesie“ rechnet.
In seiner Begegnung mit den Texten von Edgar Allan Poe erlebt Baudelaire eine tiefe und geradezu mystische Selbstbestätigung. Sie teilen beide die Erfahrung düsterer Niederlage. Insgesamt sechs Bände hat Baudelaire von Poe übersetzt, deren letzter posthum erschien. Nicht nur rettete Baudelaire den amerikanischen Dichter vor dem Vergessen, ebenso diente Poe ihm zur Selbstvergewisserung. Poes Dichtungstheorie, die in dem Begriff des unity of effect kulminiert, verbindet Baudelaire mit eigenen ästhetischen Maximen, die kurzgefaßt lauten: Eindruck und Ausdruck müssen im Werk identisch sein, und: das Schöne hat nichts mit dem moralisch Guten zu tun, es hat seine Moralität allein in der ästhetischen Evidenz. Vollkommenheit und Verkommenheit schließen sich nicht aus.
Mit dem Gedichtband „Les Fleurs du Mal“, der 1857 erscheint, setzt Baudelaire ein neues Datum in der Dichtungsgeschichte. Ein Jahr zuvor war Flauberts Roman „Madame Bovary“ gerichtlich verfolgt und freigesprochen worden. Doch in den „Blumen des Bösen“ wird das Gericht fündig: sechs Gedichte werden verboten. Die deutsche Ausgabe bringt im dritten Band die Akten des Prozesses bei. Für uns heutige Leser ist die Provokation, die von dem Buch ausging, nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen. Die Behaftung des Sexuellen mit Schuld- und Plagegefühlen, die Baudelaire stets vornimmt, wirkt heute eher fremd und nicht mehr besonders obszön.
Baudelaires Größe ist daher zum Teil nur noch eine historische der Befreiung. Doch zugleich hat er eminent gegenwärtige Gedichte geschrieben, die uns aufgrund ihrer sprachlichen Kraft und Form mit Staunen und Bewegung erfüllen. Es sind dies vor allem die Gedichte im zweiten Teil der „Fleurs du Mal“, die Stadtbilder der „Tableaux Parisiens“, die antitheologischen Revolten, die an Dostojewski gemahnen, die Beschwörungen von „Le Vin“ und „La Mort“. Und auch die fragmentartigen Prosagedichte aus „Le Spleen de Paris“, dem Spätwerk, sind uneingeschränkt zu bewundern.
In der Lyrik Baudelaires steht Bild gegen Leben. Walter Benjamin hat das mit Hilfe seines hochkomplexen Begriffs der Allegorie erklärt. Denn in der Tat haben sich noch bei keinem Dichter Kunst und Künstlichkeit so unauflöslich ineinander gespiegelt und verschränkt. Die Frage nach der Authentizität stellt sich bei Baudelaire auf beklemmend neue Weise: Es ist immer nur der Blick des Dichters, der die Dinge und Körper vor dem augenblicklichen Vergessen bewahrt.
Charles Baudelaire: „Sämtliche Werke.“ Hrg.: Friedhelm Kemp/ Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Acht Bände (der erste Band erschien 1977). Hanser 1992, 940 DM.
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