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Kunst im WachturmDie Stimme im Turm

Die Künstlerin Christine Berndt vertonte das Schicksal einer Nazi-Tochter und gescheiterten DDR-Flüchtigen, die im Gefängnis zur Stasi-Spionin wurde. "Dorle" gab es wirklich, ihre Geschichte ist als Opernskulptur in einem Grenzwachturm zu sehen.

"Kann man diesen Krach nicht ausmachen?" Der Sonnenanbeter, der sich vor dem Wachturm am Schlesischen Busch in der Sonne aalt, fühlt sich in seiner Ruhe gestört. Direkt an seinem Hinterkopf, den er an die Turmmauer gelehnt hat, entweichen verstörende Geräusche aus dem Beton. Die Stimmen und Klagelaute, dieso gar nicht zum sommerlichen Parktreiben passen, bilden eine Glocke des Unwohlseins um den ehemaligen DDR-Grenzwachturm. Irgend etwas, das suggerieren die Klangfetzen, rumort dort drinnen.

"Das ist Dorle". Christine Berndt öffnet die weiße Blechtür, als beträte sie ein Krankenzimmer. Drinnen sind die Stimmen viel lauter. Die Frau, deren Schicksal die Künstlerin Berndt im Turm zeigt, hat viele Stimmen: Das Quietschen eines Geigenbogens, ein heiseres Flüstern, ein verzweifeltes Heulen. Alles zusammen bildet die "Opernskulptur Dorle": Auf drei Turmebenen erfährt man, gesungen, geschrieben und gefilmt, vom Schicksal einer Ostberlinerin, die in Wirklichkeit anders hieß. Ein von der Weltgeschichte gelenktes, von persönlicher Schuld durchdrungenes Leben.

"Dorle" war die Tochter eines überzeugten Nazi-Generals, der sich in der DDR zum Kommunisten wendete und die NVA mit aufbaute. Die junge Frau versucht aus Liebe zu einem US-amerikanischen Juden die "Republikflucht". Sie wird gefasst, inhaftiert und verlässt das Frauengefängnis nach Jahren als Stasi-IM. Nach der Wende enttarnt die Akademikerin sich selbst und verliert ihren Job. Sie stirbt an Krebs, ohne Frieden gefunden zu haben.

Christine Berndt kannte "Dorle". Die beklemmende Turminstallation, die sie im Auftrag der Kunstfabrik am Flutgraben schuf, konstruierte sie aus Tagebuchaufzeichnungen und persönlichen Gesprächen.

Berndt startet eine DVD. Auf einem Rechteck im Boden flirren Filmausschnitte aus der "Wochenschau". Kriegszeit, 1942 bis 45: Turnerinnen, SA-Aufmärsche, Volksfeste. Die Schwarzweiß-Bilder sind geschnitten wie Traumsequenzen. "Das ist der Nährboden für Dorles Schicksal", die Künstlerin steigt über die enge Stahltreppe in den Mittelteil des Turms. "Und hier das Herzstück. Damit lasse ich Sie jetzt alleine." Sie startet eine weitere DVD und verschwindet.

Rote Digitalschrift läuft von rechts nach links über die Wand. "6.6. 93: Im Kopf geht alles durcheinander...fühle mich wehrlos und verwirrt...". Eine Stimme flüstert: "Die Kreise um mich werden immer enger". Aus dem obersten Stockwerk, der sogenannten "Freiwache", dringt der Gesang von Natalia Pschenitschnikowa ans Ohr. Die russische Vokalistin sang zur Eröffnung allein im Turm die Partitur des Komponisten Helmut Oehring. Ihre Performance wurde von vier Kameras aufgezeichnet und auf die Außenmauer des Wachturms projiziert. Jetzt läuft das 20-minütige Stück als Loop: Ein Käfig aus Schuldgefühlen, Depression und Selbsthass in einem Käfig aus Beton.

"Wie aber", fragt sich bang die Tagebuchschreibende, die kurz vor der Offenbarung ihrer jahrelangen IM-Tätigkeit stand, "sag ich es denen, die mich im Westen mögen? Wie werden sie damit umgehen, dass die von ihnen geschätzte Person zur "schlimmsten Sorte" DDR-Bürger gehört?" Die Frau, die für ihre Freiheit Freunde, Kollegen und Liebhaber verriet, versucht, das eigene Verhalten im Nachhinein zu verstehen. "Ich weiß, daß ich nicht mieser, nicht schlechter bin als andere", schreibt sie trotzig. Und fühlt sich gleich darauf wieder als "schlechter Mensch".

Christine Berndt sitzt draußen im Gras, wo Dorles Klagennur schwach zu hören sind. Die 47-Jährige, deren Arbeiten meist um DDR-Themen kreisen, wuchs in Ostberlin auf. "Dorle" lernte sie Mitte der Achtziger auf einer Party kennen, war von der Älteren beeindruckt. Doch dann kam die Wende - und die engagierte Bürgerrechtsbewegte Berndt erfuhr, wie es wirklich um "Dorle" stand. "Beim Italiener in Charlottenburg gestand sie mir, dass sie bis Mitte der 80er als IM Leute ausspioniert hatte, denen sie eigentlich nahe war: Künstler und Dissidenten!" Essen konnte Berndt an dem Abend nichts mehr. Aber sie blieb, fragte, verlangte Antworten.

"Ganz verstanden habe ich sie nie", sagt die Künstlerin, die "Dorle" bis zu ihrem Tod pflegte. "Aber ich respektierte sie für ihre Entschlossenheit, reinen Tisch zu machen." Sie erlebte, wie aus der Selbstbewußten eine einsame, zunehmend isolierte Frau wurde. Einsicht in ihre Täterakte bei der Birthler-Behörde verweigerte man ihr, auch die ehemaligen Opfer scheuten die Aussprache. "Dorles Schicksal ist eine typisch deutsche Verdrängungsgeschichte", sagt Berndt. "Sie hatte das Gefühl, als IM beim Staat etwas gutmachen zu müssen. Wie ihr Vater, dessen Heldenepos vom "guten Wehrmachtsgeneral" zum "guten Gewendeten" stets aufrecht erhalten wurde." Für ihre These spricht zumindest die Reaktion der Angehörigen, die der Künstlerin erst die Tagebücher überließen, später aber versuchten, deren Verarbeitung zu verhindern.

Die Wagner-Begeisterung der Familie gab Berndt den musikalischen Fokus für ihre Arbeit. Ihr Anliegen aber ist viel allgemeiner. Sie will die Stimmen aus dem Turm draußen hörbar machen. Und so ein Stück verdrängte Vergangenheit aufarbeiten.

"Dorle", bis 8. Juni. Do-So, 14 - 19 Uhr im Wachturm an der Puschkinallee, Höhe Schlesischer Busch.

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