: Kummers Eltern
Europa ist überall: Der italienische Schriftsteller Andrea De Carlo treibt mit seinem neuen Roman „Die ganz große Nummer“ dem amerikanischen Traum seine Magie aus
VON SANDRA HOFFMEISTER
Ewige Zitronenblüte, ewiger Sonnenschein, athletische Körper am Strand, und nach Feierabend ist jeder sein eigener Künstler: Kalifornien ist die ideale Projektionsfläche für das Lebensgefühl des American Dream. In Los Angeles und Hollywood entwickelt die Sehnsucht nach tausendundein Lebensmöglichkeiten eine suggestive Kraft, die nichts unmöglich und alle Träume realisierbar scheinen lässt. Jeder lande in seinem Leben zumindest einmal dort, ließ Uschi Obermaier kürzlich aus ihrer Wahlheimat verlauten. So auch Alberto und Raimondo, die Helden in Andrea de Carlos neuem Roman „Die ganz große Nummer“. Allerdings erfüllt sich ihr Lebenstraum nicht am Rodeo Drive oder am Sunset Boulevard, sondern zerplatzt ausgerechnet hier wie eine Seifenblase.
Die wechselseitigen Bezüge zwischen Fantasie und Wirklichkeit lernte De Carlo schon in jungen Jahren kennen, als er als Regieassistent Federico Fellinis die Dreharbeiten zu „Schiff der Träume“ mitleitete. In seinem 1981 erschienenen Debütroman „Creamtrain“ zeichnete der damals 31-jährige den amerikanischen Lebenstraum seiner Generation in hyperrealistischen Bildern und treffsicher beobachteten Details nach. De Carlo wurde über Nacht zum Kultautor. Seither ist die unerschöpfliche Neugierde auf das Leben zentraler Dreh- und Angelpunkt seiner Romane, in denen er inzwischen schon die halbe Welt bereist hat. Nach dreiundzwanzig Jahren und elf Romanen kehrt De Carlo nun zurück nach Kalifornien, an den Set seines Debütromans und zum Beginn seiner rasanten Schriftstellerkarriere, die Italo Calvino seinerzeit tatkräftig unterstützt hatte.
„Die ganz große Nummer“ protokolliert die Lebenslust und den Lebensfrust zweier Studenten im Mailand der Sechzigerjahre. Nach dem Coup eines gefälschten Interviews mit einem bekannten Rockstar brechen beide aus dem Alltag aus. „Leb wohl, Mailand! Ich verabschiede mich von dir, du kleines, mieses, engstirniges Italien“: Alberto flieht ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch im Schneegestöber des kalten Bostoner Winters muss er seinen Enthusiasmus bremsen und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Als er endlich im sonnigen Kalifornien landet, hat er längst eingesehen, dass Amerika nicht das ist, was seine Vorstellungskraft ihm suggeriert hatte. Schritt für Schritt treibt De Carlo dem Lebenstraum Amerika seine Magie aus. Ständig erinnert das Land der ungeahnten Möglichkeiten an Europa. Seine Orte heißen Syracuse und Geneva, Parma oder Dover. Als schlecht bezahlter Aushilfskellner arbeitet Alberto im Café „Bella Roma“. Sein Mitbewohner in der Olive Street von Santa Barbara versorgt ihn mit Pillen, die jede Depression verfliegen lassen. Als die lang erhoffte große Chance kommt, muss Alberto sich eingestehen, dass er keinen blassen Schimmer hat, was er aus seinem Leben machen will.
Je mehr Amerika Europa gleicht, desto amerikanischer ist Europa. Albertos alter Compagnon Raimondo avanciert in Mailand zum großen Star. Er unterschreibt und verkauft die Interviews, die sein Freund Alberto in Santa Barbara fingiert: Tom Kummers lange Hand gewissermaßen. Auf diese Weise wird die Glamourwelt der Stars für Raimondo Wirklichkeit. Als plötzlich bekannter Rockjournalist ist er Gast bei Fernsehtalkshows, schlürft Cocktails auf Promi-Partys und hat auch noch ein amouröses Abenteuer mit einem echten Popstar. Sein Leben ist die ganz große Bühne, ein einziges Schauspiel im Scheinwerferlicht.
De Carlo leuchtet mit seinem Roman die ja auch nur fiktive Parallelwelt seiner Helden und den unweigerlichen Sog, den diese auf sie ausübt, konsequent und hell aus. Am Ende lässt er diese Fiktionen auf die Wirklichkeit prallen wie ein Auto gegen eine Wand. Ganz entzaubert werden Alberto und Raimondo nie. Aber sie werden älter, und das Alter regelt jeden jugendlichen Übermut. Dass die liebenswerten Hippie-Querköpfe in „Die ganz große Nummer“ nach Umwegen über Irland und Australien in der schnöden Gegenwart ankommen – der eine als glücklicher Familienvater in Los Angeles, der andere als geschiedener Schriftsteller in Italien –, macht ein furios erzähltes Road Movie am Ende leider sehr banal.
Aber Andrea De Carlos Romane sind immer auch Fortsetzungsgeschichten, die das Leben seiner Leser und das seiner Generation sukzessiv begleiten. Und obwohl in unseren nüchternen Nullerjahren nur noch die rührselige Erinnerung an die wild-schönen Studentenjahre der Sechzigerjahre geblieben ist, spürt De Carlo seinem und dem Lebenstraum seiner Figuren trotzdem unermüdlich weiter nach. Als ob sich morgen schon alles wieder ändern könnte.
Andrea De Carlo: „Die ganz große Nummer“. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Piper Verlag, München 2004, 400 Seiten, 19,90 Euro
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