Kulturzug nach Warschau: Hollywood im Speisewagen

Eigentlich fährt der Kulturzug von Berlin nach Breslau. Für ein Filmfestival wurde er flugs nach Warschau entführt.

Passagiere in einem Speiswwagen werden gefilmt

Mit Kamerabegleitung: Kulturzug nach Warschau Foto: Uwe Rada

BERLIN taz | Es ist, wie so oft in Polen, ein bisschen unorganisiert. Wohin bloß mit den Lautsprechern? Wissen die im Speisewagen überhaupt Bescheid? Hat das Kamerateam eine Dreherlaubnis? Und was wird mit dem Gesprächspartner, der kurzfristig wegen Corona ausgefallen ist?

Es gibt, wie so oft in Polen, für alles eine Lösung. Der Lautsprecher wird unter einem Tisch verstaut, das Kamerateam muss sich zwischen die Sitze klemmen, wenn der Kellner mit Piroggen vorbei geht. Und der an Corona erkrankte Dokumentarfilmer Andreas Voigt wird übers Telefon zugeschaltet.

„Hast du Lust mit einem Kulturzug nach Warschau zu fahren?“, hatte mich Kornel Miglus vor einiger Zeit gefragt. Als ob sein inzwischen erwachsenes Baby, das seit 2006 existierende Festival Film-Polska, für den Filmkurator des Polnischen Instituts nicht genug wäre, hat Miglus ein neues aus dem Hut gezaubert: In diesem November läuft „610 Berlin Warszawa“ zum zweiten Mal. Eine Brücke soll es schlagen zwischen dem deutschen und dem polnischen Film, zwischen Berlin und Warschau. Und 610, das ist die Entfernung, in Kilometern, die zwischen den beiden Hauptstädten liegt. Der Zug wird sie an diesem Tag überwinden.

Auch die deutsche Filmemacherin Saralisa Volm ist an Bord. Sie will in Warschau „Schweigend steht der Wald“ vorzustellen – junge Filme von und mit starken Frauen, das hat Miglus für das Festival versprochen. Beim improvisierten Panel im Speisewagen sind auch der Produzent Roman Avianus und der Filmkritiker Patrick Wellinski dabei. Wellinski wünscht sich vom Kino mehr Experimentierfreude, will Neues sehen – Avianus muss ihn enttäuschen: Das Publikum brauche Orientierung, plaudert er aus dem Nähkästchen. Mehr als zehn Prozent Neues dürfe in einer Produktion nicht stecken.

Das Neue zieht vor den Scheiben vorbei: Nachdem die Oder überquert ist, kommen Rzepin, Świebodzin, Zbąszynek. Saralisa Volm war noch nie in Warschau, ist voller Vorfreude. Das da draußen, sagt sie, komme ihr nicht fremd vor. Andreas Voigt berichtet durch Handy und Mikro von einem Australier, der sich in der Nähe von Zgorzelec niedergelassen hat. Auch er fühlt sich nicht fremd. Polen, sagt Voigt, ist für ihn wie Amerika.

Viel Neues gibt es in Sophie Linnenbaums Spielfilm „The Ordinaries“ zu sehen, der schon beim Filmfest in München abgeräumt hat: In der Kinoteka in Warschau wird er nun das Festival 610 Berlin Warszawa eröffnen. Um mehr als zehn Prozent Neues zu zeigen, hat die Regisseurin die vertraute Hollywood­ästhetik gewählt, die Orientierung ist also gegeben. Dass der Film von Nebenfiguren erzählt, die zu Hauptfiguren werden wollen, dann aber lieber eine Rebellion anzetteln, ist großes Kinokino. Leider kann Linnenbaum nicht selbst im Kulturspeisewagen davon erzählen. Sie ist nicht an Corona erkrankt, sondern hat einfach nur den Zug verpasst.

Dann schon Poznań. „Bis dahin solltest du durch sein“, hat Kornel mich, den Moderator, gebeten. Tatsächlich wird der Zug ab Poznań voll. Schnell alles abbauen und zurückziehen in die Abteile. Und am nächsten Tag ab Poznań schnell alles wieder aufbauen. Diesmal sind die polnischen Filmschaffenden zugestiegen: Die Kritikerin Alexandra Nowak spricht über die Frauenproteste in Polen, Regisseur Konrad Szołajski über seinen Dokumentarfilm zum Thema – „Dobra Zmiana“„Wandel zum Guten“– und wie schwer es war, ihn zu finanzieren. Das polnische Kino steht unter Druck und viele weichen ihm auch aus. Wenn man in 100 Jahren zurückblickt, fragt Kornel Miglus: Wird man dann am polnischen Film erkennen können, wie tief gespalten die Gesellschaft war?

Eine Art bewegliche Brücke nennt Miglus den Kulturzug, der seit 2016 von Berlin nach Breslau fährt. Deshalb habe man beschlossen, ihn im Rahmen von „610“ nach Warschau umzuleiten. Er hätte auch sagen können: Der Zug wird gekapert.

Immerhin sind auf der Rückfahrt die Kellner dieselben. Sie servieren Piroggen und Kaffee, später gibt es auch Bier. Das Geschäft läuft. Nach einer Drehgenehmigung fragen sie nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.