Kultur in der Ukraine: Das alte Lied
Dominika Tschekun singt traditionelle ukrainische Lieder. Sie ist ein Star in ihrer Heimat – und Teil einer ukrainischen Identitätssuche. Ein Besuch.
W ir fahren und fahren. Draußen Flachland. Birken, Eichen, Kiefern, aufgestellt wie in Reih und Glied. Unser Ziel: Stari Koni, ein Dörfchen an der Grenze zu Belarus, im entlegensten Winkel der Westukraine, das nicht einmal Google Maps kennt. Auf dem Weg dahin immer wieder Straßensperren, eine nicht enden wollende Slalomfahrt zwischen Militär-Checkpoints, gebaut aus Panzersperren, Autoreifen, Sandsäcken. Gelegentlich rumpelt unser Wagen durch ein Schlagloch.
Im Radio läuft Popmusik. Ein Cover des russischsprachigen Kriegsliedes „Ja soldat“ („Ich bin Soldat“) der Band 5’nizza. Diese Version des Liedes ist ukrainisch.
Ich bin Soldat – glaubt mir, ich wollte nie Krieg.
Ich bin Soldat und spucke auf offene Wunden.
Ich bin Soldat, wir sind Söhne eines freien Landes
Ich bin Held und sie werden Romane über mich schreiben.
Sprache ist in der Ukraine eine sensible Angelegenheit. Seit einigen Monaten darf Musik von Interpreten, die nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung von 1991 die russische Staatsbürgerschaft haben oder hatten, nicht mehr in der Öffentlichkeit gespielt werden.
In Stari Koni lebt die alte Bäuerin Dominika Tschekun, die alle nur Baba „Oma“ Dania nennen. Erst im Alter von fast 80 Jahren wurde sie ein Star. Jetzt, wo im ganzen Land Artilleriegeschosse dröhnen, feiert die Kulturszene in Lwiw und Kyjiw mit Ehrfurcht die zerbrechliche, kehlig-harte Stimme dieser Greisin.
Tschekun gilt als Hüterin traditioneller ukrainischer Ritualgesänge, Balladen und Liebeslieder. Viele ihrer Lieder handeln vom Leben und Alltag ukrainischer Bauern. Wie zum Beispiel „Oy, beda!“, in dem es um ein junges Mädchen geht, das sich heimlich mit einem schönen Lockenkopf getroffen und mit ihm geschlafen hat. Er verlässt sie, sie ist keine Jungfrau mehr und muss wohl für immer unverheiratet bleiben.
Oh, welch Jammer, liebe Freundinnen, welch Jammer!
Noch bin ich ein junges Mädel
Einen Süßen traf ich am Dorfrand
Mit Locken über seiner Stirn.
Für diese Locken
Verlor ich mein Herz am Dorfrand
Stand barfuß bis zum Morgengrauen
Die Beine zerstochen von Mücken
Welch Jammer, liebe Freundinnen, oh welch Jammer!
Blieb ich für immer ein junges Mädel.
Dominika Tschekun schloss nur vier Grundschulklassen ab, bis zu ihrer Rente arbeitete sie als Melkerin. Jahrelang sang sie in der Dorfkirche und auf Hochzeiten. Beim Rinderhüten gegen die Langeweile und bei der Roggenernte gegen die Erschöpfung. Noten lesen hat sie nie gelernt.
Seit der Unabhängigkeit 1991 und erst recht seit der Revolution auf dem Maidan 2014 suchen immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer nach ihren kulturellen Wurzeln. Wer sind wir, wo kommen wir her, macht uns etwas einzigartig? Die Antworten darauf finden sie auch in Baba Danias uralten Volksliedern. Die Avantgarde hofiert sie als Maskottchen nationaler Identität, lädt die Figur Baba Dania politisch auf.
Baba Dania war oft im Fernsehen in den vergangenen Jahren. Bands wie TNMK und Kurbasy sampelten ihre Gesänge in ihren Songs. Sie stand auf Bühnen in Kyjiw und Lwiw und in Krakau, trat in Budapest und Paris auf. Zusammen mit Ruslana, der ESC-Gewinnerin 2004, sang Baba Dania dort in einer Kathedrale, ließ sich von Franzosen mit Wangenküssen feiern und posierte für Selfies. Am Tag nach ihrer Rückkehr aus Paris hackte sie den ganzen Tag Holz. Baba Dania hat keine Starallüren.
Sie freut sich, dass sie seit 2014 so oft vor großem Publikum singen durfte und plötzlich so viele junge Menschen ihre Lieder lernen wollen. Aber so recht versteht sie nicht, warum nun Fernsehteams bei ihr auftauchen und was der Rummel um ihre Person eigentlich soll – für sie hat ihre Musik nichts mit dem Maidan oder mit dem Krieg zu tun. Die Lieder sind das verklungene Gedächtnis ihrer Familie, ihres Dorfes.
Wir kommen unangemeldet nach Stari Koni. Sascha, ein pummeliger, strohblonder Polizist, begleitet uns vom letzten Checkpoint zu ihr, seiner Nachbarin. Kurz vor dem Dorf wird die Straße zu einem matschigen Sandweg. Wir fahren Schrittgeschwindigkeit.
Da ist Baba Danias Hof: ein rotes Holzhäuschen mit himmelblauen Fensterläden. Wir öffnen das Tor und laufen auf einem asphaltierten schmalen Gartenweg. Hennen gackern umher, ein Hund knurrt angekettet vor seiner Hütte.
Sascha klopft. Wir warten. Stille. Nach einer Weile das Geräusch von Schritten, ein Klackern. Die Tür öffnet sich. Aus dem Haus dringt säuerlicher Geruch. Baba Dania grüßt in bunt besticktem Kopftuch und empfängt uns mit einer Selbstverständlichkeit, als habe sie auf uns gewartet.
Sie ist Besuch aus der Ferne gewohnt. Bis zum Krieg war ihr Haus viele jahre lang eine Pilgerstätte für Singende und Musikethnologen aus der ganzen Welt. Aus Polen, aus den USA reisten Liebhaber von Polyphonie und Volksmusik nach Stari Koni, um von Baba Dania zu lernen. Sie verlangt keine Erklärungen, wer wir sind und was wir von ihr wollen. Baba Dania empfängt jeden.
„Kommt rein, Sascha, setzt euch, ich hab ein Schlückchen!“
„Heute nicht, meine Frau wartet!“
„Komm, komm, setz dich!“
Davon, dass wir in einem Gästehaus übernachten wollen, will Baba Dania nichts hören. Wir folgen ihr durch vier schwach beleuchtete Zimmer mit niedrigen Decken zu unserem Schlafzimmer. Wir sehen Tapeten mit altmodischen Mustern, bunte Häkelteppiche, Plastikblumen, Ikonen und Fotos von Enkeln und Urenkeln. Die Zeit in diesem Haus ist vor vielen Jahren stehengeblieben.
Baba Dania ist eine sehr alte Frau, ihre abgetragene Bluse zerschlissen und dreckig vom Leben auf dem Hof. Sie trägt türkisfarbene Gummischlappen und zieht das linke Bein hinter sich her. Aber ihre aufrechte Haltung lässt sie elegant und würdevoll erscheinen. Als ob sie immerzu vor einer Menschenmenge auf einer Bühne stünde.
Jetzt geht sie in die Vorratskammer und füllt Gorilka, selbst gebrannten Schnaps mit eingelegten getrockneten Birnen, vom Fass in eine Flasche und stellt Schnapsgläser auf den Tisch. Dazu gebackene Fischchen, aus dem Fluss hinter dem Haus, und Pfannkuchen mit Quarkfüllung.
Eigentlich aber wartet Baba Dania auf eine Gelegenheit zum Singen.
Sie kippt ein zweites und ein drittes Schnapsglas runter. Der Wodka ist das Doping, mit dem sie ihre alte Stimme zur Blüte bringt. Dann fixiert sie mit ihren stahlblauen Augen einen Punkt im Raum. Ihr Gesicht wird ernst, als trüge sie eine Maske. Sie bewegt den Mund nur leicht, die Öffnung zwischen den Lippen bleibt schmal. Die erste Melodie weht durchs Haus. „Roter Schneeball“ heißt das Lied übersetzt.
Roter Schneeball, warum errötest du?
Hast du Angst vor Hitze oder Mitleid mit dem Gras?
Ich habe keine Angst vor der Hitze und bereue nichts.
Wo ich gepflanzt bin, dort erröte ich.
Ihre Stimme bebt. Die Laute heben und senken sich. Manchmal erinnert ihr Gesang an Jodeln.
Für unsere Ohren klingt die Musik eigenwillig, wirken die Harmonien fremdartig. Die Melodien sind wie ein Rausch, hypnotisch. Sie haben nichts von den sanften Übergängen, die wir aus der westlichen Popmusik kennen. Ich ringe mit mir, wünsche mir manchmal, dass Baba Dania aufhört. Dann wieder, dass es nie endet.
Minutenlang bleibt ihr Gesichtsausdruck starr, nur der Klang ihrer Stimme füllt den Raum. Die Konzentration, mit der sie singt, erinnert an spirituelle Mantras.
Sie setzt ab und strahlt, die Goldzähne funkeln im Dämmerlicht. Ohne zu fragen, singt sie noch ein Lied. „Litali Zhuravli“. Dann noch eins. Sascha mampft Pfannkuchen. Er kann die Aufregung um Baba Dania nicht verstehen. Warum kommen aus der Ukraine, aus Polen, aus den USA Menschen nach Stari Koni, um sie singen zu hören? „Alle Omas in unserem Dorf singen so“, flüstert er. Für Menschen wie Sascha sind ihre Lieder keine kulturellen Schätze. Sie sind mit ihnen aufgewachsen, sie gehören zum Leben wie die Kühe zum Dorf.
Es dämmert. Sascha verabschiedet sich um kurz nach acht, Baba Dania geht früh ins Bett. Schließt das Haus ab und schlüpft in ihr Nachthemd.
Am nächsten Morgen werkelt sie ab halb sechs in der Küche. Kurbelt einen Blecheimer voll Wasser aus dem Brunnen, schiebt Holzscheite in den Ofen, rührt Teig für Pfannkuchen an. Ich setze mich neben sie und darf die Pfannkuchen mit Quark belegen und einrollen.
„Sie ist eine hazajka, eine gute Hausfrau“, lobt sie mich, als ihre Tochter Olena anruft. Nur dass ich noch nicht verheiratet bin, sorgt sie. Aber Baba Dania ist taktvoll, stellt nicht zu viele Fragen. Stattdessen singt sie mir ein russisches Volkslied vor.
In dem Lied will die Mutter einen Bräutigam für ihre Tochter finden. Aber der erste Anwärter ist langweilig, der zweite ein Trunkenbold, der dritte kleinwüchsig. Keinen will die Tochter haben. Schließlich gibt es ein Happy End: Sie heiratet den Zehnten. „Den Zehnten sollst du heiraten!“, zwinkert sie mir zu.
Sie singt gerne auf Russisch, obwohl sie die Sprache schlecht spricht. Aber sie vermisse die Sowjetunion, sagt sie. Damals sei es fröhlicher gewesen, die Männer hätten hart gearbeitet. Jetzt würden viele trinken. Ob sie sich die Vergangenheit schöndenkt?
Baba Danias Lebensphilosophie kennt keine politischen Zerwürfnisse. Oder vielleicht interessieren sie sie einfach nicht. „Wenn du ein Lied kennst, singe es, egal in welcher Sprache.“
Draußen türmen sich Wolken auf, es wird ein Gewitter geben. Zusammen laufen wir zur Nachbarin, Milch holen. So früh hört man fast kein Geräusch im Dorf, nur den Donner und gelegentliches Schweinegrunzen. Vor fast jedem Häuschen reihen sich sorgfältig gepflegte Pflanzen- und Gemüseäcker. Auf einem der Autos prangt statt eines Nummernschilds der Spruch „ПУТИН ХУЙЛО“ („Putin ist ein Pimmel“).
Stari Koni liegt im Westen Polesiens, eines dünn besiedelten Landschaftsstreifens, der sich über Polen, Belarus und den Norden der Ukraine bis nach Russland erstreckt. Die Grenze zu Belarus ist so nahe, dass wir durch die Wälder hinüberlaufen könnten. Seit dem Krieg darf niemand auf die andere Seite.
Baba Dania erklärt uns das Dorf: Jener Nachbar züchtet im Sommer Himbeeren für den Export, jener trocknet Birkenblätter und verkauft sie an Pharmaunternehmen. Ihre beiden Kinder Mischa und Olena leben nur ein paar Kilometer weit weg. Manchmal rufe die Enkelin aus Uschgorod in der Westukraine an und erzähle ihr: „Oma, du warst im Fernsehen.“
2021 kam Präsident Selenski zu ihrem Konzert. Kurz zuvor hatte die Unesco ihre Lieder in die Audiokollektion von immateriellem Weltkulturerbe aufgenommen – in einer Reihe mit Beethovens neunter Sinfonie und mit Borschtsch, der ukrainischen Rote-Bete-Suppe.
„Sie ist unser Nationalschatz, unsere Schamanin. Sie ist die Stimme der Ukraine,“ sagt die Lwiwer Kulturmanagerin Jarina Winnitskaya per Videochat. Winnitskaya hat große Pläne für Baba Dania, will sie auf der Bühne in Deutschland und Polen sehen. Eine Aufnahme mit Baba Danias Stimme hat sie an Sting geschickt, sie hofft, dass die beiden eines Tages gemeinsam auf der Bühne stehen. Baba Dania weiß von alldem noch nichts. Ihre Beine schmerzen, sie verlässt kaum noch das Haus.
Dass Baba Dania die Sowjetunion vermisst und auch russische Lieder singt, ignoriert Winnitskaya und will auch nicht, dass ich das schreibe – selbst die Frage danach wühlt sie so sehr auf, dass sie beginnt, mir zu drohen. Baba Dania sei ungebildet, kenne keine Geschichte, keine Politik, verstehe die historischen Zusammenhänge nicht. „Du darfst sie damit nicht zitieren!“
Baba Dania, das zeigt das Telefonat mit Winnitskaya, ist eine Figur in einem Kulturkampf, von dessen Existenz sie selbst nichts weiß. Mit Kriegsbeginn, eigentlich schon seit 2014, sehen einige Ukrainerinnen und Ukrainer Russisch als Feindessprache und wollen nur noch Ukrainisch sprechen. Ihr sowjetisches Erbe ausradieren, als wäre es nie dagewesen.
Dabei ist Russisch auch die Muttersprache von Millionen Menschen in der Ukraine. Für die allermeisten liegt in dieser Gleichzeitigkeit kein Konflikt: In der Familie sprechen sie Russisch. Wenn sie etwas auf Instagram posten oder im Supermarkt einkaufen gehen, tun sie das auf Ukrainisch.
Viele, für die Ukrainisch zwar die Landessprache, aber nicht ihre Muttersprache ist, sind im vergangenen Jahr dazu übergegangen, auch privat Ukrainisch zu sprechen – weil sie es für sich so entschieden haben, nicht, weil jemand sie dazu zwingt. Doch gerade im Westen des Landes sind radikale Einstellungen wie die von Winnitskaya keine Ausnahme. Die Unterdrückung, die ihr Volk und ihre Sprache jahrhundertelang von russischer Seite erlitten, schmerzt sie.
Baba Danias späte Karriere zeigt die Ambivalenzen, die dieses Land ausmachen, wie unter dem Brennglas: die Suche nach der eigenen kulturellen Identität, die Spuren und die Nostalgie nach dem längst vergangenen Leben in der Sowjetunion, die scheinbare Unvereinbarkeit zwischen Gestern und Heute. Dabei existieren in der Ukraine diese Realitäten ohne Paradox nebeneinander. Als alter Mensch dem Leben in der Sowjetunion nachzutrauern, Putin zu verachten und sich gleichzeitig als stolze Ukrainerin zu empfinden, ist nur in der Theorie ein Widerspruch.
Und Baba Dania ist zu knorrig, als dass sie jemand wäre, den man instrumentalisieren könnte. Was sie betrübt ist, dass ihre Enkel und die jungen Menschen im Dorf die alten Lieder längst vergessen haben. Die Dorftradition ist ihr wichtiger als die ukrainische Nation, wichtiger als die gebildeten Bewunderer ihrer Volksmusik aus den Städten.
Zum russischen Angriffskrieg sagt Baba Dania nicht viel. Nur, dass er sie traurig macht. Nachrichten schaut sie keine. Im Schlafzimmer steht ein altes Fernsehgerät. Aber die Woche, in der wir hier sind, bleibt der Bildschirm schwarz.
Nach unserem Spaziergang ist Baba Dania erschöpft. Kehrt ins Haus zurück, lässt sich auf dem durchgesessenen Kanapee in ihrem Wohnzimmer nieder. Hinter ihr tickt die Wanduhr, vor ihr auf dem Tisch stehen Urkunden und Fotos. Ein Foto zeigt sie 2017 bei einer Preisverleihung mit der ukrainischen Kultusministerin. Ein anderes ist eingerahmt: Baba Dania in Volkstracht auf einer Bühne, der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko überreicht ihr 2009 eine Auszeichnung für ihre Verdienste um die ukrainische Kultur.
Wir sitzen nebeneinander und schweigen. Baba Dania reckt ihr Kinn nach vorne, drückt die Schultern nach hinten und singt:
Oh, sie haben das Grün vom Ahornbaun entfernt.
Lass uns den Busch zum Meister bringen!
Lasst uns den Busch zum Meister ins Zimmer bringen,
Komm raus, liebe Dame, und gib den Büschen Gold.
„Takije byli kolissnij pisnji!“, sagt sie zum Schluss immer und seufzt. So waren sie, die alten Lieder!
Das Busch-Lied besingt ein archaisches Ritual zur Huldigung der Vorfahren. In alten Zeiten bedeckten Mädchen in Stari Koni am Pfingstsonntag eine junge Frau mit Ahorn, Gras und Kornblumen, verkleideten sie als „Busch“. Man führte sie von Tür zu Tür, sang Lieder, die Nachbarn gaben Brot und Eier.
Im Lied verschmelzen christliche und heidnische Elemente. Es müsse deshalb viele Jahrhunderte alt sein, vermuten Musikethnologen – wie alt, weiß niemand, sagt die amerikanisch-ukrainische Anthropologin Maria Sonevytsky. Mit seinem Überleben trotzte es Jahrzehnten sowjetischer Kultur-und Religionspolitik. Das von Moskau gesteuerte Regime hatte sich nach Kräften bemüht, religiöse und bürgerliche Musik zu vertreiben. Und viele Ukrainerinnen und Ukrainer wollten auch sowjetisch sein, zogen in die Städte. Sie sprachen, lasen, sangen auf Russisch.
Die Entlegenheit Polesiens und die Beharrlichkeit der Menschen, weiter im Takt jahrhundertealter Traditionen zu leben, war ein Glücksfall: Die Lieder blieben erhalten.
In Baba Danias Jugend war Singen so alltäglich wie Kochen oder die Versorgung des Viehs. Die Lieder wechselten im Lauf des Jahres. Die Menschen sangen zeremonielle Frühlings- und Herbstlieder, sangen zur Ernte und auf Hochzeiten, sangen Weihnachtslieder. Traditionell wurden die Lieder von zwei oder drei Stimmen gesungen, ein polyphones Geflecht.
Heute stiften dieselben Lieder ein Gefühl von Stolz auf die ukrainischen Schätze, die so lange im Vorraum des Vergessens schlummerten und von denen Russland behauptet, sie würden nicht existieren. Wenn Russland ukrainische Kultur vernichten will, sind damit auch Baba Danias Lieder gemeint. Für das digitale Archiv folk-ukraine.com, eine Sammlung von traditionellen Songtexten und Liedern, hat sie vor einigen Jahren ihre Lieder eingesungen. Seit Kriegsbeginn wurde die Seite immer wieder gehackt.
Baba Dania hat ein Repertoire von über 150 Stücken. Ihre Lieder vergisst sie nicht, alles andere schon. Zum Beispiel, für wen sie bei der letzten Präsidentschaftswahl gestimmt hat.
Sie ist eine großartige Geschichtenerzählerin. Aber oft weiß sie nicht mehr, wann oder wo diese Geschichten spielten. Wenn etwas sie besonders beeindruckt, sagt sie „Tak, tak“, „so, so“, legt den Kopf zur Seite und nickt lange und nachdenklich.
1942: Als kleines Mädchen, erzählt sie, habe sie ihre Oma und Mutter nachgeahmt, die ihre Lieder sangen, während sie sich am Webstuhl abmühten. Ihr erstes Lied lernte sie mit sechs, als sie ihre Oma zu einer Hochzeit begleitete. Die kleine Dominika saß am Kachelofen und hörte die Gesänge der Erwachsenen. In eines der Lieder verliebte sie sich, immer wieder sang sie es vor sich her. Jahrzehnte später brachte sie es ihren Enkeln bei.
Etwa zu der Zeit kam der Zweite Weltkrieg nach Stari Koni. Dominika sah großgewachsene deutsche Soldaten durchs Dorf streifen, stand am Tor und hielt ihnen Eier hin. Einer griff danach und nickte gutmütig. Baba Dania ahmt mit ihrer faltigen Hand seine Bewegung nach, um zu zeigen, wie er ihr über den Kopf strich. Später erfuhr sie, dass die Deutschen Erdgruben gegraben und ihre jüdischen Nachbarn dort tot und lebendig hineingeworfen haben. Mit einer von ihnen, Rochale, war ihre Mutter befreundet gewesen. Dominika putzte bei ihnen vor Pessach das Haus und bekam als Belohnung Matze, ungesäuertes Fladenbrot.
1955: Dominika war 19, als Iwan – Jannik –, den sie beim Tanzen im Dorfklub gesehen hatte, sie zum Spaziergang am Fluss einlud. Dort machte er ihr einen Heiratsantrag. Er war der Dritte, die anderen beiden Anwärter hatte sie zurückgewiesen. „Ich will noch nicht heiraten“, sagte sie auch zu ihm. „Ich werde auf dich warten!“, antwortete er hartnäckig. Und spürte schon: Sie liebt ihn auch. Noch in dem Jahr heiraten die beiden.
Das Jahr, in dem Baba Dania heiratete, war das gleiche Jahr, in dem die Sowjetunion mit den anderen Staaten des Ostblocks den Warschauer Pakt schloss – ein Militärbündnis als Gegengewicht zur Nato.
„Oh, was haben wir früher gesungen!“ – Baba Dania holt ihre vergilbten Fotoalben aus dem Holzschrank im Schlafzimmer, verteilt sie auf dem Kanapee. Ein Leben, verdichtet auf wenige Momente: Baba Dania beim Borschtsch-Essen mit Freundinnen. Jannik in Schwarz-Weiß. Baba Dania mit den Enkeln, Baba Dania auf einer Bühne, singend. Eine klassische Schönheit war sie nie gewesen. Auf den Fotos wirken ihre Gesichtszüge herb, der Körperbau rechteckig vom Schuften auf dem Feld.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Auf einem Farbfoto ist zu sehen, wie Baba Dania dick eingepackt in einen schwarzen Mantel vor dem Kreml steht. Auch die sowjetische Kulturpolitik war ambivalent, und so durfte sie noch zu Sowjetzeiten mehrmals in Moskau auftreten. Nie würde sie auf die Idee kommen, Russland oder die Russen zu hassen, auch jetzt nicht, im Krieg.
„Der Direktor der Kolchose kam immer zu mir und sagte: Dania, ohne dich wird diese Hochzeit keine Hochzeit!“ Ihre Arbeit als Melkerin in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb in der Sowjetunion hatte ihr auch ihre Bühnengigs verschafft.
Viele Männer waren eifersüchtig und verboten ihren Frauen die Auftritte. Jannik polierte ihr vor den Konzerten die Schuhe, bis sie glänzten. Nach der Arbeit sangen sie zusammen, sie hatte es ihm beigebracht.
Auch ihre Tochter Olena sang als kleines Mädchen. Dann zog sie zum Studium nach Kyjiw. Nach ihrer Rückkehr sang sie nie mehr. Wenn Baba Dania einmal stirbt, wird die Tradition der Gesänge in ihrer Familie abbrechen.
Heute können wir in der Tiefe ihrer Klänge den Schlüssel zu einer verlorenen Welt nur erahnen. Wird sie eines Tages nicht mehr sein, wird mit dem Reichtum ihrer Lieder auch der letzte Rest dieser Welt verschwinden. Dieser Gedanke schmerzt sie.
1984 holte eine Musikethnologin Baba Dania und ihren Frauenchor nach Kyjiw. Niemand von ihnen war jemals Zug gefahren, sie fürchteten sich vor den Türen der Waggons. Als sie endlich im November im verschneiten Kyjiw auf einer Bühne standen, war eine ganze Traube von Folkloristen gekommen, um sie zu hören. Das war der Durchbruch.
An unserem vierten Tag in Stari Koni kommt die Postbotin auf den Hof und bringt ihre Rente. Auf dem rostbraunen Tisch breitet sie in gelblichen Scheinen 6.000 Hrywna aus, etwa 160 Euro. Jedem ihrer drei Enkel schickt Baba Dania 1.000.
Im August 2021 bekam sie für einen Auftritt 250 Euro. Sie sollte zum 30. Unabhängigkeitstag in Kyjiw singen. Man hatte sie in einem Bus in die Hauptstadt gefahren und darin eigens für sie ein Sofa eingebaut. Zu dem von Jarina Winnitskaya organisierten Folklore-Konzert „Kovcheh – Ukraina“, das sie a cappella eröffnen sollte, war auch Präsident Selenski geladen. Internationale Größen wie die ukrainische Ethnochaos-Band Dakha Brakha und der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, der im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, traten auf.
Nach ihrem Auftritt feierte das Publikum sie mit lang anhaltenden Standing Ovations. Jarina Winnitskaya rannten vor Glück und Rührung die Tränen übers Gesicht, sagt sie.
Am Montag, es ist unser letzter Tag in Stari Koni, hat Baba Dania Geburtstag. Sechsundachtzig. Um zehn Uhr morgens steht ihre beste Freundin Nadia in kobaltblauem Kleid und knallroter Perlenkette am Gartentor, um zu gratulieren. Sie küssen sich auf die Wangen. Die beiden leeren zwei Schnapsgläser auf dem Hof, dann treten sie ins Haus. Seit Krieg ist, singt niemand mehr draußen.
„Welches sollen wir?“
„Was du willst!“
Baba Dania gibt den Ton vor, Nadia stimmt ein.
Nach dem dritten Lied schnauft Baba Dania, ringt mit ihrem Atem, niedergeschlagen von der Schwäche des eigenen Körpers. Plötzlich sieht sie sehr alt aus.
Von den sechs Frauen aus Baba Danias altem Dorf-Ensemble lebt nur noch Nadia. Vor ein paar Tagen hörte der Nachbar durch die Wände, wie sie und Nadia im Haus ihre Lieder sangen. Das gehöre sich nicht, tadelte er, Nadias Enkel sei doch erst vor wenigen Tagen in den Krieg gezogen. Am Tag drauf blieb sie stumm, Baba Dania sang alleine. „Der Junge ist doch nicht einmal an der Front angekommen, und schon dürfen wir nicht singen.“ Heute, am Geburtstag, hat Nadia es sich wieder anders überlegt.
Am Nachmittag kommen dann alle, die Nachbarn, die Kinder, eine Schwester. Wir schlagen uns mit Kyjiwer Torte die Bäuche voll und leeren zwei Flaschen Gorilka.
Sie erzählen, ein Lastwagen bringe die Leichen getöteter Soldaten, damit sie von ihren Familien begraben werden. Er fahre durch die Provinz und die umliegenden Dörfer.
An solchen Tagen stehen Baba Dania, Nadia und die anderen im Dorf an ihren Gartentoren und sinken auf die Knie, aus Trauer und Respekt vor den Toten. Zu hören ist dann nur das ratternde Geräusch des Motors.
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