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Kult-Objekt klein Alfred

Zum Schreiben verurteilt: 100 Jahre Hitchcock und kein Ende. Lars-Olav Beier präsentiert seinen Hitchcock-Reader im Abaton  ■ Von Malte Hagener

Wohl kein anderer Regisseur hat so viel Jugendliche zum Filmkritikerdasein verführt, so viele sadistische Blondinenwitze inszeniert und so viele Bäume für das Papier der über ihn geschriebenen Worte auf dem Gewissen wie Alfred Hitchcock.

Seit die Salon-Revoluzzer der Nouvelle Vague in den späten 50er Jahren den vormals als Genre-Bastler Geschmähten zum „Auteur“ stilisierten, ist er das Lieblingsobjekt der Filmkritik, der Filmwissenschaft und des Publikums gleichermaßen - der Künstler als populäres Kultobjekt. Anläßlich seines 100. Geburtstag rollt nun die bisher größte Hitchcock-Buchlawine auf uns zu: Das Truffaut-Interview ist in einer definitiven Luxus-Ausgabe im Diana-Verlag erschienen, Heyne bringt Donald Spotos populäre Biografie neu heraus und Enno Patalas widmet dem Meister in der Reihe „dtv porträt“ ein schmales Bändchen.

Der Bertz-Verlag beteiligt sich an dieser verlegerischen „La ola“ mit einem von Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen herausgegebenen, knapp 500-seitigen Buch, das große Namen, vor allem aus den Feuilletons großer Tageszeitungen, versammelt, Regisseure wie Tom Tykwer und Hans-Christoph Blumenberg dazugibt und mit einigen eher filmhistorisch hervorgetretenen Publizisten würzt. Bertz ist wohl die erfreulichste neue Erscheinung auf dem deutschen Filmbuchmarkt der letzten Jahre. Die Texte ihrer Bücher bewegen sich zwischen geschliffener Filmkritik, kulturwissenschaftlicher Analyse und kultischer Verehrung; was die Bücher immer eine Anschaffung wert macht, ist die üppige Illustration mit Fotos, die sinnfällig im Text beschriebene Sequenzen erläutern und neue Standards für Filmbücher gesetzt haben.

So ist es auch hier: Die einzelnen Filme werden stets mit ihren Anfangstiteln vorgestellt, die so schon eine Geschichte en miniature – von Hitchcock ersten englischen Stummfilmen bis zu seinen großen amerikanischen Erfolgen – ergeben. Mehrere hundert Fotos zeigen auch hier, daß echte Liebhaber am Werk waren. Eine Aufsatzsammlung ist zumeist eine Angelegenheit wie ein Supermarkt, aus der man sich hier und da bedient, aber dessen vollständiges Angebot man weder nutzen kann noch will. So verspricht Beier in seinem Vorwort auch, daß das Buch „Lust machen soll, sich mit Hitchcock erneut intensiv auseinanderzusetzen“. Keine strenge Schulgründung also, sondern eher ein Tante-Emma-Laden zum Herumstöbern: ein erster Teil mit einem Interview und zehn längeren Aufsätzen zu einzelnen Merkmalen des Mannes und seiner Filme und ein zweiter, ebenfalls beinahe 250 Seiten starker Teil mit Kritiken und Analysen der einzelnen Filmen.

Hitchcocks Filme bieten scheinbar ein ideales Behältnis, in das sich jede Theorie oder Weltanschauung füllen lässt - nicht umsonst benutzt Slavoj Zizek den Regisseur, um die hermetischen Theorien Lacans unter dem Titel Everything You Always Wanted to Know About Lacan But Were Afraid to Ask Hitchcock zu erläutern. So geben die Filme und die Person Hitchcock im Grunde wenig über sich selber preis und eigentlich verrät jede Analyse mehr über den Schreibenden als über das Objekt - so fungieren Hitchcocks Filme als Spiegel und die Bertzsche Aufsatzsammlung droht stets ins Beliebige abzurutschen, wovor den Band nur die hohe Qualität der Texte rettet. Insofern sind neue Erkenntnisse von diesem Buch nicht zu erwarten und wohl auch gar nicht angestrebt, zuviel Tinte ist Hitchcocks wegen schon vergossen worden, und zudem neigen Filmkritiker ohnehin dazu, für eine gute Metapher ihren gesamten Analyseapparat über Bord zu werfen.

Das soll kein Vorwurf sein: Der Band vereinigt lesenswerte und interessante Texte, doch der erste Griff nach einem Hitchcock-Film wird weiterhin zu Truffauts Interviewband führen.

Lars-Olav Beier/Georg Seeßlen, Alfred Hitchcock, film: 7, Bertz-Verlag, 480 S.

Buchpräsentation mit Lars-Olav Beier und Hitchcock-Tag: heute im Abaton (Mord/Foreign Correspondent, USA 1940, dt.F, 17.15 Uhr; Psycho, USA 1960, OF, 20 Uhr, Familiengrab/Family Plot, USA 1976, dt.F., Einführung: Lars-Olav Beier, 23 Uhr)

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