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Künstler Ben Wagin wird so um die 90Baumpate sucht Paten

Das „Parlament der Bäume“ von Umwelt- und Aktionskünstler Ben Wagin ist wohl gerettet. Aber es fehlt noch eine nachhaltige Finanzierung.

Ben Wagin Foto: Claudius Prößer

Die Februarsonne hat Krokusse an die Oberfläche gelockt. Lila und gelb leuchten sie auf dem toten Gras vom vergangenen Jahr, die noch kahlen Bäume werfen ein scharfes Schattenmuster über sie und auf das narbige, mit frischem Weiß getünchte Stück Mauer, vor dem zwei gut gelaunte Menschen in Malerkitteln stehen und mit schwarzer Farbe eine naive Szene pinseln: Ein Schiff, mit lebendigen Bäumen beladen, ist in der Mitte auseinandergebrochen, einer der Bäume ist herausgefallen. Offenbar auf fruchtbare Erde, denn er wächst und gedeiht.

Der Ort, an dem das passiert, wirkt wie ein angenehm unaufgeräumter Garten. Vorn führt eine wenig befahrene Straße vorbei, hinter der die Spree fließt. Hinten schließt eine rund sechzig Meter lange, mit schwarzweißen Bildern und Schrift verzierte Mauer das Gelände ab, links und rechts wird es von hohen Glas- und Betonfassaden umrahmt: Wir sind mitten im Regierungsviertel. Die Straße ist der Schiffbauerdamm, die Nachbargebäude sind die Bundespressekonferenz und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestags.

„Das war ja alles viel größer, bis sie den Karnickelstall da hingebaut haben“, sagt ein kleiner Mann in Handwerkerblau und mit schwarzer Mütze auf dem kahlen Kopf. Ben Wagin zeigt auf die Bundespressekonferenz. Der Künstler, der diesen aus der Zeit gefallenen Ort, das „Parlament der Bäume“, geschaffen hat, sagt oft solche schnoddrigen Sätze, in denen Behördenvertreter und Politiker auch mal als „Pfeifen“ oder schlicht „Arschlöcher“ auftreten.

Er duzt ausnahmslos jeden

Richtig bitter klingt das aber nie. Meist geht so eine kleine Tirade nahtlos in ein breites Grinsen oder glucksendes Lachen über, und dann folgt Wagins raue, warme Stimme schon wieder einem anderen Gedankenstrang, während sein Zuhörer aufpassen muss, den Anschluss nicht zu verlieren. Wie um das zu kompensieren, sucht Wagin immer den körperlichen Kontakt zu den Menschen, mit denen er spricht, und knetet ihnen beiläufig am Arm oder am Knie herum.

Ben Wagin – für alle, die mit ihm zu tun haben, einfach Ben, er duzt selbst ausnahmslos jeden –, geht hart auf die 90 zu. Laut seinem Pass ist er im März 1930 geboren, er selbst hält sich darüber bedeckt und feiert ohnehin lieber den Sommeranfang. Es gibt aber auch Freunde von ihm, die behaupten, er sei noch ein paar Jahre älter. Dass die Zeit keine Spuren in seinem Gesicht und an den ständig aktiven Händen hinterlassen habe, kann man nicht behaupten. Gleichzeitig strahlt dieser kleine, drahtige Mensch etwas Jugendliches, ja Kindliches aus. Seine Bewegungen sind zielsicher und beschwingt, die hellen Augen glasklar, und auch wenn seine Rede ein Bewusstseinsstrom ist, auf dem vieles vorbeitreibt, was Uneingeweihte auf den ersten Blick nicht deuten können, wirkt sie nicht wirr.

Beides – das hohe Alter und die Vitalität – drängen die Parallele geradezu auf: Ben Wagin, der Aktionskünstler, Bastler, Umweltaktivist, Zeichensetzer, ist selber so etwas wie ein Ginkgo, dieses lebende Baumfossil mit den quastenförmigen Blättern, das irgendwo in den chinesischen Bergen die letzten Eiszeiten überdauert hat. Wagin, der spätere „Baumpate“, sah seinen ersten Ginkgo Anfang der 50er Jahre, ein stattliches Exemplar, das noch heute vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Uni steht. Seitdem hat er Hunderte Ginkgos und noch mehr andere Bäume in Berlin gepflanzt und pflanzen lassen, unter anderem im „Parlament der Bäume“ am Schiffbauerdamm.

Laut Pass ist Wagin im März 1930 geboren, er feiert lieber den Sommeranfang

Eigentlich würde er es heute lieber „Parlament aller Bäume“ nennen, sagt Wagin, das treffe es besser. Rund hundert sind noch übrig, seit das Regierungsviertel näher gerückt ist und große Teile der ursprünglichen „Parlaments“ hier an der ehemaligen Berliner Mauer aufgefressen hat. Die meisten haben Prominente in die Erde gesetzt – eine Silberlinde von Hanna-Renate Laurien, ein Nussbaum von Rolf Eden, ein Apfelbaum von Richard von Weizsäcker, ein Ginkgo von Michael Douglas. Das ist jetzt schon eine Weile her, viele der Spender leben nicht mehr.

Die Kunstwelt fremdelt

Was die Botschaft des „Parlaments“ sei, wird Wagin manchmal von BesucherInnen gefragt, aber eine klare Antwort gibt es darauf nicht, jedenfalls nicht eine einzelne. Gleich nach dem Mauerfall begann der in Westberlin Geborene, der erst Galerist war und dann die Natur mit ihren Formen als kongeniale Künstlerin entdeckte, den von allem Lebendigen bereinigten Grenzstreifen als Denk-Ort für die Opfer von Krieg und Teilung zu inszenieren; aber auch, darauf legt er Wert, für die Opfer des Krieges, den die Menschen gegen ihre Umwelt führen.

Malerarbeiten am Parlament der Bäume, Februar 2019 Foto: Claudius Prößer

Das Ergebnis ist ein kleiner, bunt gemischter Wald, gespickt mit historischen Relikten und Andeutungen, originalen Mauerteilen und räumlichen Inszenierungen aus alten Fenstern, Panzersperren, Gießkannen und Sarkophagen.

Wer sich auf diese Vielschichtigkeit nicht einlassen will, wird den Ort nicht recht verstehen. „Er ist alles gleichzeitig: Friedhofsanlage, Gedenkstätte, Mauerkunst, Wandmalerei, Land Art, Bio Art, Happening und Performance Kunst, Community Gardening, Skulpturengarten“ – solche Begriffe könne man für das „Parlament der Bäume“ anwenden, „je nachdem, aus welcher Perspektive und mit welcher Fragestellung man es betrachtet“, sagt die Kunsthistorikerin Nicola Wündsch, die ihre Bachelorarbeit über Wagins Dauerprojekt verfasst hat. Es ist die erste Arbeit, die sich wissenschaftlich mit der Anlage auseinandersetzt, die etablierte Kunstwelt gibt sich mit dem hybriden Werk eher ungern ab. Und auch die großen Touristenströme ziehen vorbei: Das „Parlament der Bäume“ so Wündsch, sei „kein ‚hipper‘ Ort und nicht wirklich fototauglich“. Was es von anderen Mauerfragmenten, etwa der East Side Gallery, unterscheidet.

Der rechtliche Status des „Parlaments der Bäume“ war immer prekär, und es ist wohl nur Wagins Qualitäten als Netzwerker zu verdanken, dass der Bund als bisheriger Eigentümer die Fläche zwar stark beschnitten, das verbliebene Teilstück aber bis heute nicht bebaut hat. Langjährige Freunde wie der grüne Berliner Europaabgeordnete Michael Cramer – „der Michael“ – haben immer wieder für Wagins Projekt getrommelt und tun das auch weiterhin.

Tatsächlich sind mittlerweile wichtige Schritte getan, damit das kleine „gallische Dorf“ – ein gerne bemühter Vergleich – erhalten bleiben kann: Nachdem die Baukommission des parlamentarischen Ältestenrats 2002 den Weiterbestand „auf absehbare Zeit“ zugesichert hatte und 2009 der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert die Frist noch einmal um zehn Jahre verlängerte, stellte die Senatskulturverwaltung das „Parlament“ 2017 unter Denkmalschutz. Im November 2018 entschied dann wieder die Baukommission, das Gelände aus dem eigenen Flächenportfolio herauszulösen und an das Land Berlin zu übertragen.

Keine „museale Sache“

Wie genau das vonstatten gehen wird, ist noch nicht klar, die Beteiligten halten sich bedeckt. Die Senatsverwaltung für Finanzen bestätigt auf Anfrage nur, man habe sich mit dem Bundesfinanzministerium und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BimA) „grundsätzlich über den Ankauf verständigt“ und kläre nun die „Modalitäten“ ab. Möglich ist, dass die Senatskulturverwaltung versuchen wird, das „Parlament“ in die Stiftung Berliner Mauer einzugliedern, immerhin handelt sich um den einzigen am ursprünglichen Standort erhaltenen Mauerabschnitt mitten im Stadtzentrum. Die Stiftung will das weder bestätigen noch dementieren. Es sei jetzt erst mal „eine sehr gute Nachricht, dass das Parlament der Bäume dauerhaft erhalten bleiben soll“, teilt Direktor Axel Klausmeier lediglich mit.

Ben Wagin ist von der Idee weniger begeistert: „Ich will nicht, dass das so 'ne museale Sache wird“, sagt er. Kein Wunder: Jede Musealisierung wäre ein schreiender Widerspruch zu seiner Art, Kunst zu machen. Fertig ist im Wagin-Kosmos nie etwas, irgendwo entsteht immer eine neue Form, verändert sich etwas oder kommt hinzu.

So wie das baumspendende Schiff, das sein Künstlerfreund Wolfgang Loewe und eine spontan dazugestoßene Kunststudentin gerade auf die Mauer malen und das noch ein paar „Buchstaben“ (auch so ein Wagin-Ausdruck) dazubekommen soll, als Bekenntnis zu Europa.

Ganz authentisch ist übrigens nur die Hälfte der Mauerreihe: Als die benachbarten Grundstücke bebaut wurden, integrierte man den südlichen Teil des von Wagins jahrelang bewahrten Mauerabschnitts nach langen Diskussionen in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Den nördlichen baute der Künstler ab und verdoppelte damit die verbleibenden sechzig Meter. Dazwischen eingeschlossenen ist jetzt eine kleine Werkstatt-Galerie. Bis auf diese ist das Gelände zwar von der Straße aus komplett einsehbar, aber nur auf Anfrage zugänglich.

Noch fünf Jahre

Dass es sich stärker zur Stadt hin öffnen soll, das will auch Ben Wagin. Er hat einen Förderantrag an die Berliner Lottostiftung gestellt, damit sein „Parlament“ eine minimale Infrastruktur bekommen kann, Beleuchtung, Klos. Vielleicht ließen sich auch ein paar Leute bezahlen, die regelmäßige Führungen übernehmen.

Ob das Geld kommt, erfährt er Mitte März. Dass es reichen wird, glaubt er nicht. „Ich bin bereit, das hier noch mal fünf Jahre zu machen“, sagt der beinahe 90-Jährige und meint das völlig ernst. „Aber ich kann da nicht jeden Sommer den Schlauch halten und am Ende nicht mal 'ne Tafel Schokolade dafür kriegen.“ Wie Wagin, der seine Kunst praktisch nicht vermarktet, alles finanziert, grenzt für viele Beobachter an ein Wunder. Alte Freunde wie Rolf Eden haben ihn immer wieder großzügig gefördert, aber der einstige Westberliner Playboy, fast so alt wie Wagin, ist schwer krank.

Im Grunde braucht der Baumpate selber ein paar neue Paten, damit er das „Parlament der Bäume“ so lange weiterentwickeln kann, wie er kann. Es wäre nicht nur eine Genugtuung für ihn, sondern auch ein Bekenntnis zu einer mit der Stadt seit langem verwachsenen Künstlerpersönlichkeit, deren vielfältige Spuren im öffentlichen Raum die Zeit, die Ignoranz und der Kapitalismus schon jetzt fleißig verwischen.

Das emblematische Wandbild „Weltbaum“ auf einer Brandmauer am S-Bahnhof Tiergarten (Wagin wohnt gleich nebenan) wurde gerade nach gut vier Jahrzehnten zugebaut, eine Kopie, die Street-Artists 2018 in der Lehrter Straße angelegt haben, ist schon teilweise von Graffiti verdeckt. Was für den Künstler leichter zu verschmerzen ist als die vielen von ihm gepflanzten Bäume, die Bautätigkeiten zum Opfer gefallen sind. Nicht zuletzt an der Neuen Nationalgalerie, wo die Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2016 zwei Schwarzkiefern absägte, die er dort 1976 gepflanzt hatte. Um das „Versehen“ wieder gutzumachen, hatte die Stiftung Wagin den Druck eines Kunstbuchs zugesichert. Ihm reicht das nicht: „Unverantwortlich, was sich die Trillerpfeifen da geleistet haben.“

Zum Tag des Baumes am 25. April hat sich Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) – „die Katrin“ – angekündigt. Sie unterstützt das Projekt und will gerne selber einmal symbolisch zur Schaufel greifen. Aber wenn die Finanzierung bis dahin nicht halbwegs gesichert sei, „werfe ich den Schlüssel in die Spree“, grummelt Wagin. Dann lacht er wieder, kneift seinem Gesprächspartner in den Arm und denkt sich etwas Neues aus.

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