: Krümmel: „Zwei Minuten vor zwölf“
■ Leukämie in der Elbmarsch: Öko-Institut soll AKW inspizieren / Kieler Staatssekretär kritisiert Hamburger Geiz Von Marco Carini
Stillstand total. Seit Monaten sollen drei neue Gutachten zu der Häufung von Leukämie-Erkrankungen in der Umgebung von Krümmel in Auftrag gegeben werden, passiert aber ist bislang nichts. Kiels Energieminister Klaus Möller reiste nun am Wochendende nach Geesthacht, um die dortige „Bevölkerung über den neuesten Sachstand zu informieren“. Und mußte massiv Kritik einstecken. So warf Marion Lewandowski von der Initiative „Eltern für unbelastete Nahrung“ der schleswig-holsteinischen Landesregierung vor, ihr fehle „der politische Wille zur Aufklärung“.
„Wir haben den Zeitfaktor bei der Gutachtenvergabe unterschätzt“, erklärte der ebenfalls aus der Landeshauptstadt anagereiste Volker Schmidt, Staatssekretär des Kieler Umweltministeriums, die Hängepartie. Energieminister Möller aber versprach: „Wir sind bei allen Gutachten kurz vor Abschluß der notwendigen Verträge, es ist da zwei Minuten vor zwölf“.
Dabei geht es um folgende drei Studien, die von der niedersächsischen und der schleswig-holsteinischen Leukämie-Expertenkommission angeregt wurden:
1) Das atomkritische Ökoinstitut Darmstadt soll untersuchen, was in den Jahren 1983 bis 1989 an Radioaktivität aus dem Krümmeler Atommeiler entwich. Hintergrund der Untersuchung: Der sprunghafte Anstieg der Leukämierate in der Elbmarsch in den vergangenen Jahren weist nach Meinung einiger ExpertInnen auf mindestens einen bislang unbemerkten Störfall hin, bei dem große Mengen strahlender Edelgase entwichen sind.
Die Darmstädter sollen dafür alle relevanten Meß-Daten aus dem AKW und der Kieler Überwachungsbehörde erhalten und zusätzlich überprüfen, ob es zu Störfällen gekommen sein kann, die von den Überwachungsinstrumenten nicht registriert wurden. In den nächsten Tagen soll der Gutachtenauftrag unterschrieben werden. Warum dies nicht schon geschah, erklärt Minister Klaus Möller so: „Wir mußten diese Untersuchung mit den HEW abstimmen, um einen jahrelangen Rechtsstreit mit dem Stromversorger zu vermeiden“.
2) Durch eine weitere Baumscheibenuntersuchung soll die Belastung der Elbmarsch-Vegetation mit radioaktivem Tritium ermittelt werden. Allerdings schränkt Staatssekretär Schmidt ein: „Es gibt Bedenken der Fachleute in den Ministerien über den Zusammenhang zwischen Tritium-Anreicherungen und einer erhöhten Strahlenbelastung“.
3) Eine Nachuntersuchung zur Kinderchromosomenstudie soll laut Staatssekretär Schmidt in den „nächsten Tagen anlaufen“. Bei der ersten Studie hatten die WissenschaftlerInnen nicht im Blut der Elbmarsch-Kinder, sondern bei den im Vergleichsgebiet Plön untersuchten Kindern eine erhöhte Anzahl abnormer, sogenannter „dizentrischer Chromosomen“ gefunden, die auf eine erhöhte Strahlenbelastung hinweisen.
Dieses „total unplausible“ Ergebnis, so der Leiter des Lüneburger Gesundheitsamtes Hajo Dieckmann, soll nun überprüft werden. Dieckmann kritisierte, daß das nicht längst geschehen ist: „Aus medizinischer Sicht ist es ein glatter Kunstfehler, solche unerklärbaren Untersuchungsergebnisse nicht sofort gegenzuchecken, zumal die Anzahl dizentrischer Chromosomen mit zunehmender zeitlicher Entfernung zu ihrer Verursachung ständig abnimmt“.
Peinlich: Obwohl die Kieler Landesregierung bereits im August über drei neue Leukämiefälle in der Elbmarsch unterrichtet worden waren, schenkten die Politiker den Erkrankungen wenig Beachtung. Während Umwelt-Staatssekretär Schmidt diese Tatsache „völlig unbekannt“ war, erklärte Möller er habe das „prüfen lassen“. Über das Ergebnis der ein einziges Telefonat erfordernden „Prüfung“ konnte Möller allerdings nichts sagen. Nach Recherchen der Bürgerinitiative „Leukämie in der Elbmarsch“ erkrankten allein in diesem Jahr auf der schleswig-holsteinischen Elbmarschseite drei Frauen, allesamt zwischen 30 und 40 Jahre alt, an Blutkrebs. Zwei von ihnen wohnen nach taz-Informationen im Zwei-Kilometer-Radius um den Atommeiler Krümmel, die dritte weniger als zehn Kilometer von dem „Leukämiereaktor“ entfernt.
Am 13. Dezember soll nun die schleswig-holsteinische Leukämie-Kommission die Aufträge für die Gutachten absegnen, einen Tag später wird das Kieler Kabinett sich mit dem Arbeitsplan des ExpertInnen-Gremiums für das nächste Jahr beschäftigen. Daß zwar die HEW sich an der Finanzierung der Lekämiestudien beteiligen, nicht aber der Hamburger Senat, ist für die Kieler Regierenden dabei unverständlich. Umwelt-Staatssekretär Volker Schmidt: „Die Hamburger sollten endlich auch mal ihrer Verantwortung gerecht werden, und ein paar Märker in den Pott einzahlen“.
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