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Kritisch, pragmatisch, gut

„Attac“ bedient das Bedürfnis nach Spontaneität und lockerer Bindung an eine soziale Organisation. Den Erfolg der Bewegung bilanzieren Christiane Grefe, Mathias Greffrath und Harald Schumann

Attac hat aufgehoben, was die Grünen auf dem Marsch in die Ministerien verloren

von STEFAN REINECKE

In den 90ern konnte man fast jede Debatte mit einem Wort beenden: „altlinks“. Altlinke hatten den Epochenbruch von 1989 verschlafen. Der altbundesrepublikanische Pazifismus versagte vor den ethnischen Kriegen, den altlinken Glauben an den Staat als Umverteilungsmaschine blamierten Börsenboom und hippe, junge Selbstständige. Geld verdienen war angesagt, Gerechtigkeitsdebatten etwas für Evangelische Akademien.

Ende der 90er formierten sich Gegenkräfte, gestützt auf Reste der Linken, aber weit darüber hinausreichend. Seit dem New-Economy-Crash sehen viele die neoliberalen Zaubersprüche skeptischer. Seit das „Volk von Seattle“ demonstrierte, galt Kapitalismuskritik nicht mehr automatisch als graubärtig. Opposition war wieder angesagt, Manu Chao in den Charts, der Stern wählte Attac zur Organisation des Jahres 2001. Grund genug, das Phänomen zu ergründen.

Die Zeit-Redakteurin Christiane Grefe, der Publizist Mathias Greffrath und der Spiegel-Redakteur Harald Schumann beschreiben Motive und Aufstieg der Globalisierungskritiker. Das Buch „Attac“ ist ein Patchwork, eine bunte Mixtur aus Analyse, Feature und Interviews (u. a. mit Daniel Cohn-Bendit, einem der wenigen Grünen, der die Bedeutung von Attac verstanden hat, und Thomas Fischer vom Vorstand der Deutschen Bank).

In der ersten Hälfte des Buches schreibt Schumann seinen 1996 verfassten Bestseller „Die Globalisierungsfalle“ weiter. Ereignisse wie die Asienkrise oder der Zusammenbruch Argentiniens sind neu, die Struktur ist die gleiche wie vor sechs Jahren. Die Multis sparen Steuern auf Kosten schwächelnder Nationalstaaten, unkontrollierte Offshorezentren florieren, die globalen Finanzmärkte bestimmen die Spielregeln und stürzen ganze Staaten in den Abgrund. Die Globalisierung vergrößert faktisch den Abstand zwischen Arm und Reich – eine Aufstiegschance, wie viele Neoliberale meinen, ist sie gerade für Arme nicht. Schumann zeichnet en detail nach, wie Korea und Thailand unvermutet 1997 in eine spekulativ überhitzte Finanzkrise gerieten.

Das Rezept des Internationalen Währungsfonds (IWF) – höhere Steuern, höhere Zinsen, weniger Sozialausgaben – wirkte ebenso verheerend wie die Krankheit, die es zu bekämpfen galt. Die Krise endete mit der faktischen Enteignung von Teilen der koreanischen Wirtschaft, die heute in westlicher Hand sind. Einigermaßen heil entkam nur Malaysia dem spekulativen Gewitter: ohne die zweifelhafte Hilfe des IWF, dafür mit strikten Kapitalkontrollen.

Schumann skizziert die Weltwirtschaftsgeschichte seit Bretton Woods 1944 im fast forward mode. Neu ist das nicht, aber pointiert und faktenreich dargelegt. Und grundlegend, um den Erfolg von Attac zu verstehen.

Globalisierung ist ein komplexes, verwirrendes Zusammenspiel internationaler politischer und ökonomischer Faktoren. Sie hat keinen Autor, der Protest dagegen also keinen Adressaten – oder eben viele. Wenn schon die Analyse dieses diffizilen, globalen polit-/finanzökonomischen Komplexes so schwierig ist, wie schwer ist es erst, dessen Spielregeln zu ändern.

Der Aufstieg von Attac basiert auf einem Versprechen – nämlich dem, dass wir, trotz der lähmenden Unübersichlichkeit und scheinbaren Naturwüchsigkeit der Globalisierungsprozesse, etwas tun können. Attac betrat die Bühne mit der richtigen Forderung zur richtigen Zeit: der Tobin-Steuer. Die Idee, eine geringe Steuer auf internationale Devisengeschäfte zu erheben, schien plausibel. Denn sie war ein Mittel, um die Finanzmärkte zu entschleunigen, Spekulation zu erschweren und zudem nötiges Geld für Entwicklungshilfe abzuschöpfen. Die Tobin-Steuer war ein Zeichen, auf das viele gewartet hatten: Wer dafür votierte, signalisierte nämlich nicht nur Dissens zur herrschenden Globalisierungspraxis, sondern machte gleichzeitig noch einen praktischen Vorschlag. Die Tobin-Steuer schien auf einfache und geniale Weise Moral und Realpolitik zu verbinden.

In Frankreich, so Mathias Greffrath, wurde das so erfolgreiche „Kerngeschäft“ von Attac entwickelt: „Tobin Tax, Austrocknung der Finanzoasen, Schuldenausgleich.“ In der Pariser Zentrale arbeiten lediglich ein paar Hauptamtliche, da selbst die Mitgliederkartei eine aushäusige Firma verwaltet. Effektivität zählt – auch wenn Outsourcing eigentlich als neoliberal verpönt ist.

Auch in Deutschland wurde Attac zu dem Versprechen, dass eine wirksame, von Ideologiegerümpel befreite Kapitalismuskritik möglich ist. Kurz gesagt: Greenpeace-Image statt Kapitalkurs-Muff. Attac besetzte das Thema, das die Grünen bei ihrem Marsch in die Ministerien vergessen hatten. In dem scharfsinnigsten Teil des Buches fragt Christiane Grefe, worin der Erfolg der deutschen Attac-Bewegung wurzelt. Gewiss in der für eine offene Organisation lebensnotwendigen Selbstdisziplin, über die, wie Grefe feststellt, die Attacis in überraschendem Maße verfügen. Und in ihrer Sachkompetenz. Aber was verbindet lärmende Jungrevolutionäre und anthroposophische Naturkosthändler? Attac, so Grefe, „bedient das Bedürfnis der individualisierten Gesellschaft nach Spontaneität und den Wunsch, sich an Organisationen nicht zu fest zu binden“. Diese Formel – innere Toleranz und lockere Bindung – ist ein Schlüssel für den Erfolg und die größte Gefahr. Schließlich kann man nicht ewig gemeinsam verschieden sein.

Attac ist ein labiles Gebilde. Parteien können einfach mal nichts tun, Bewegungen nicht. Daher muss stets etwas Neues her. Aber es muss passen. Ein falsches Kampagnenthema kann viel ruinieren. Neuerdings scheint Attac keine single-issue-Bewegung mehr sein zu wollen und auf Gesundheits- und Rentenpolitik zu setzen. Den Gewerkschaften gefällt das. Aber der Schulterschluss mit den Gewerkschaften kann erdrückend sein. Gesundheits- und Rentenpolitik sind komplizierte Fächer, Lobbyismus und Moral nicht einfach zu trennen. Und es gibt keine Forderung wie die Tobin-Steuer, die alle Bedürfnisse bündelt. Ob das Bündnis von Naturkosthändler und Jungrevoluzzer die Frage der Nettolohnanpassung der Renten und der Krankenkassenfinanzierung übersteht?

Christian Grefe, Mathias Greffrath, Harald Schumann: „Attac. Was wollen die Globalisierungskritiker?“ Rowohlt, Berlin 2002, 222 Seiten, 12,90 €

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